Bad Kissingen hat im Jahr 2014 das Projekt "Chrono-City" gestartet und will sich nach der inneren Uhr des Menschen richten – im Bild der Uhrenpark in Düsseldorf.

Foto: APA / dpa / Gero Breloer

Natürlich kann Michael Wieden, wenn gewünscht, auch um acht Uhr morgens einen Vortrag halten. Aber angenehm ist es nicht. Grundsätzlich geht der Wirtschaftsförderer des traditionsreichen fränkischen Kurorts Bad Kissingen (21.500 Einwohner) gerne um ein Uhr nachts ins Bett und steht gegen neun Uhr morgens auf. Wieden hat Glück: Sein Arbeitgeber, die Stadt Bad Kissingen, setzt rücksichtsvollerweise Meetings nicht mehr so bald in der Früh an.

Und das nicht nur wegen Wieden, sondern weil man in Bad Kissingen grundsätzlich sehr viel Verständnis für die unterschiedlichen Bedürfnisse, was den tageszeitlichen Rhythmus betrifft, hat. Das geht so weit, dass die Bad Kissinger die Sommerzeit abschaffen möchte, einen entsprechenden Arbeitskreis gibt es schon. Sollen also künftig 21.500 Menschen in einer Stunde Unterschied zu den restlichen 82 Millionen Deutschen leben?

"Es geht mir nicht darum, dass Bad Kissingen am Ende die einzige Stadt in Mitteleuropa ist, wo die Uhren anders gehen", sagt Bürgermeister Kay Blankenburg (SPD). Zwar würde er die Abschaffung der Sommerzeit begrüßen, aber wichtiger ist ihm, Denkanstöße darüber zu geben, wie Politik mit der Zeit umgeht. Und konkret ändern soll sich auch etwas. Deshalb hat Bad Kissingen im Jahr 2014 das Projekt "Chrono-City" gestartet und will sich nach der inneren Uhr des Menschen richten.

Zeitstrukturen passen nicht mehr

"Jeder Mensch hat einen individuellen Tagesrhythmus. Nicht alle würden zur selben Zeit aufstehen, wenn sie keinen Wecker hätten", sagt Wieden, der das Projekt ins Leben gerufen hat und auch betreut. Die "Lerchen" springen schon sehr früh höchst motiviert aus dem Bett, der Morgen gehört ihnen. "Eulen" hingegen kommen nachts auf Touren und gehen erst schlafen, wenn die "Lerchen" schon wieder fertig sind.

Das Problem: Die Schule aber fängt für alle zur gleichen Zeit an; am Arbeitsplatz ist es auch nicht viel anders. Kranke werden dann behandelt, wann es der Zeitplan der Klinik vorgibt. "Zeit ist nichts, was von selbst passiert. Sie wird gesellschaftlich gemacht", sagt Dietrich Henckel, Wirtschaftswissenschafter an der Technischen Universität Berlin.

Sein Schwerpunkt ist kommunale Zeitpolitik, er ist auch im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik. Seiner Meinung nach "passen viele Zeitstrukturen, die sich über Jahrzehnte herausgebildet haben, heute nicht mehr".

Schulbeginn mitten in der Nacht

Wie schwierig es aber ist, die Uhr neu zu erfinden, merkte man auch in Bad Kissingen, dessen Projekt "Chrono-City" von der Universität Groningen (Niederlande) und der Uni München betreut wird. Brainstormings in der Stadtverwaltung, Gespräche mit Wirtschaftstreibenden, Schulen und Klinken – zunächst mussten Interessenten überhaupt sensibilisiert werden.

Schließlich war klar: Das Jack-Steinberger-Gymnasium möchte mitmachen. Zunächst wurden die Schüler mithilfe eines Fragebogens der Uni München chronotypisiert. Bei der Begutachtung ihrer Schlafzeiten stellte sich heraus: Rund ein Drittel haben ihre Schlafmitte zwischen vier und sechs Uhr. "Der Schulbeginn um acht Uhr liegt für sie eigentlich mitten in der Nacht", sagt Schulpsychologin Andrea Rottmann.

Also wollte die Schulleitung den Unterrichtsbeginn von acht auf neun Uhr verschieben. Allerdings hätten die Lehrer dann im leeren Klassenzimmer gewartet. Denn der Nahverkehr in der gesamten Region, die bis ins Nachbarbundesland Thüringen hineinreicht, ist eben so getaktet, dass alle Schüler um acht Uhr in der Schule sind. Dann ist Pause bei den Öffis.

"Um scheinbar kleine Dinge zu ändern, ist ein riesiger Aufwand nötig", sagt Wirtschaftsförderer Wieden, der aber bei den Verkehrsbetrieben hartnäckig bleiben will. Die Schule hat jedoch Dinge verändert, die sie allein gestalten konnte. Lehrer werden gebeten, Tests nicht mehr am Morgen durchzuführen, sondern später. Es gibt außerdem Tageslichtlampen in den Klassenzimmern.

Dienstpläne anpassen

Auch die Hescuro-Klinik Regina, wo psychosomatische und orthopädische Probleme behandelt werden, will sich besser auf die innere Uhr ihrer Mitarbeiter und ihrer Patienten einstellen. Soweit möglich, werden bei der Erstellung des Dienstplans die chronobiologischen Bedürfnisse berücksichtigt. Wieden versucht, auch andere Betriebe zu sensibilisieren, räumt aber ein, dass noch viele dicke Bretter zu bohren sind: "Manche Unternehmer haben Sorge, dass sie jetzt gleich ihren ganzen Betrieb umwerfen müssen."

Doch darum gehe es nicht. "Wir müssen erst das Bewusstsein ändern. Irgendwann sollte es den Menschen klar sein, dass gegen die innere Uhr zu leben dem Körper schadet wie schlechte Ernährung" so Wieden.

Für Wirtschaftswissenschafter Henckel wird die Zeit von der Politik noch viel zu wenig berücksichtigt. "Die Zeitpolitik steckt in Deutschland noch in ihren Anfängen", sagt er. Als Ziel der Zeitpolitik sehen Experten wie der Rechts- und Politikwissenschafter Ulrich Mückenberger, "nachhaltig öffentliche, wirtschaftliche und politische Zeitstrukturen mit den Bedürfnissen von Individuen, Familien und Gruppen vereinbar zu machen".

Dabei mangelt es laut Experten nicht an Betätigungsfeldern. "Wir erleben zunehmend Zeitkonflikte", sagt Henckel und verweist auf die "Ausdehnung" in allen Lebensbereichen. Rund um die Uhr einkaufen, rund um die Uhr arbeiten, surfen, fernsehen, im Schichtdienst arbeiten – es wird immer mehr Flexibilität geboten, aber selbige auch erwartet.

Doch viele Strukturen hinken den Anforderungen nach. "Wenn wir etwa ein Ehepaar haben, das im Schichtdienst arbeitet, dann möchte dies vielleicht sein Kind über Nacht im Kindergarten lassen, weil das für alle bequemer wäre", sagt er. Doch dann kommen schon die Konflikte. Rund-um-die-Uhr-Betreuung kostet nicht nur mehr Geld, sondern erfordert auch Personal, das möglicherweise wiederum in andere "Zeitzonen" eingebunden ist – weil es vielleicht nachts das eigene schlafende Kind daheim hat und selbst anwesend sein muss. "Zeitpolitik muss diese Konflikte entschärfen, dabei geht es immer um Einzelfallentscheidungen", meint Henckel.

Wir haben mehr Zeit – und weniger

Er rät aber auch dazu, den privaten Bereich kritisch zu überprüfen. Paradoxerweise haben wir heute eigentlich mehr Freizeit denn je, da sich die Arbeitszeit in den vergangenen Jahrzehnten verkürzte. Gleichzeitig aber fühlen sich immer mehr Menschen ständig gehetzt und meinen, nicht über ausreichend Zeit zu verfügen.

"Uns stresst das Angebot, das immer vielfältiger wird", sagt Henckel. "Je mehr Möglichkeiten man hat, desto größer wird die Sorge, viel zu verpassen, weil man ja in seiner Freizeit nicht alles machen kann." Eine Lösung erscheint einfach und fällt vielen doch so schwer: bewusst auswählen. (30:10.2016, Birgit Baumann aus Berlin)