Franziska Köck leitet das Heim in Kindberg. Sie will, dass sich die Bewohner wohlfühlen.

Foto: Oona Kroisleitner

Germain Weber, Psychologe an der Universität Wien.

Karl Pötz geht jede Woche ins Kino. Am besten gefallen ihm Liebesfilme.

Kurz vor dem Schluss tänzelt Georges Dimou in seinem weißen Pilotenanzug mit Goldstickereien in eine asiatisch dekorierte Bar. Der Schauspieler und Schwerenöter singt von einer "unsagbar schönen" Frau, die er in Nagasaki kennengelernt hat. Beim Refrain steigt das Publikum mit ein. Auf den Gesichtern der älteren Männer und Frauen flackern Lächeln auf. Ihre Köpfe wippen im Takt.

Georges Dimou, nicht Georg Dimu, mag schöne Frauen.
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Kurz vor dem Beginn ist es hingegen still. Manchmal hört man fast, wie die Zeit vergeht. Das ist so ein Moment. In der Cafeteria zwitschern zwei bunte Wellensittiche, die Kaffeemaschine tropft in der Ecke und eine Pflegerin befüllt die Glasvitrine mit Tortenstücken. Im Raum nebenan werden Stühle zusammengerückt. Die Tische in der Empfangshalle sind sauber, Blumengestecke stehen in der Mitte. Das Pensionisten- und Pflegeheim in der steirischen Gemeinde Kindberg ist vorzeigenswert, liebevoll dekoriert aber auch fast schon ein wenig steril.

"Wir gehen jetzt ins Kino", ruft Karl Pötz und schiebt sich in seinem Rollstuhl durch die Halle. Der 59-Jährige lacht. Er ist aufgeregt. Hinter ihm strömen in einem gemütlichen Tempo immer mehr Pflegeheimbewohner durch den Gang. Es zieht sich: Gehhilfen klappern und Rollen quietschen. Vor dem Gemeinschaftsraum bildet sich eine Schlange. Manche plaudern über das Mittagessen, andere über die Eröffnung der Kindergruppe in der nächsten Woche. Pötz hält seine Eintrittkarte parat. Eine Pflegerin beruhigt ihn. Für die meisten könnte die Zeit jetzt ein bisschen schneller vergehen.

Gebannt werden die Filme, die die Zuseher eigentlich schon kennen, verfolgt.
Foto: Oona Kroisleitner

"Wir wollen das Erlebnis so authentisch wie möglich gestalten", sagt Heimleiterin Franziska Köck. Der Raum hinter der noch immer verschlossenen Türe soll alle "an ein richtig altes Kino erinnern". Drei mit rotem Samt bezogene typische Klappstuhlreihen haben in dem bereits abgedunkelten Raum ein neues Zuhause gefunden – Köck hat sie aus einem aufgelassenen Kino. Es ist Dienstag, 14 Uhr. Wie jede Woche dreht sich in dem Zimmer gleich die Zeit zurück und der Raum wird zum Kino.

An den Wänden hängen Poster von Filmklassikern. Marilyn Monroe lächelt von der einen Seite, Humphrey Bogart schaut streng auf der anderen: Manche mögen's heiß und Sirocco steht unter ihren Abbildern. Getrennt werden die Plakate von einer Leinwand, die von einen roten Vorhang verhüllt wird.

Gift und Rauch aus Ölen

Im hinteren Teil des Raums ploppt Popcorn, die Retromaschine war ein Geschenk. Duftöle sorgen für einen besonderen Geruch. Dieser ist gewünscht. Eine Kinobesucherin sagte Köck, als das Kino eröffnete, es würde zwar alles visuell an ihre früheren Kinozeiten erinnern, allerdings würde es anders riechen. "Damals wurde im Kino geraucht und irgendein Putzmittel versprüht, das sicher hochgiftig war", sagt Köck.

"Die Gerüche prägen uns sehr stark", sagt Germain Weber, Entwicklungspsychologe und Dekan an der Fakultät für Psychologie an der Uni Wien. "Diese Wahrnehmungen bleiben uns am längsten erhalten." Durch Projekte wie dieses würde das soziale Wohlbefinden gesteigert, erklärt Weber. In einem modernen Kinosaal würden viele der älteren Generation "wenig Anschluss finden". Ein solches altes Kino unterstütze Erinnerungen an die prägenden Identitätsjahre. Also an eine Zeit, in der man alleine ins Kino gegangen ist, an jene, als man sich von seiner Kindheit und den Eltern gelöst habe und auch "das erste Mal in einem Film für über 18 war". Wichtig sei jedoch, dass die jüngere Generation "nicht zu sehr zu Animateuren und es nicht zur Folklore wird".

Was wichtig ist

Wenn man Menschen fragt, was ihnen wichtig sei, würden Kinder und junge Erwachsene in die Zukunft blicken, wie das Leben weitergeht, sagt Weber. "Als ältere Personen werden wir uns unserer Endlichkeit bewusst." Das Wichtige liege dann nicht mehr vor einem, sondern in der Vergangenheit. Das bereits Erlebte und die Erinnerungen daran würden dann Wohlbefinden bringen.

Am Eingang zum Kino verläuft es gesittet. Kein Drängeln, alle haben Zeit.
Foto: Oona Kroisleitner

Pötz wirkt noch immer etwas aufgeregt. Er hat an diesem Tag eine spezielle Aufgabe. In seiner Hand liegt ein Gerät, er drückt auf den Knopf und klingelt: Einlass. Vor der Tür kontrolliert eine Pflegerin die Eintrittskarten. Köck lächelt: "Unsere Bewohner müssen sich selbstständig an den Vortagen um die Karten kümmern." Im Heim hängt jeden Monat ein Spielplan aus, am Empfang gibt es die Karten. Der Andrang ist groß. In dem Alltagstrott des Pflegeheims soll der "Kartenkauf" die Bewohner fit halten. "Es ist wichtig, Selbstverantwortung zu generieren", betont Weber: "In der Pflege muss man aufpassen, dass Personen nicht in eine Regression fallen." Man müsse sie unterstützen, den Menschen aber gleichzeitig Raum geben und nicht zu früh eingreifen.

Knopf für Notfälle

Auf dem Tisch neben der Popcornmaschine befindet sich ein roter Alarmknopf für medizinische Notfälle. Jeder Heimbewohner findet seinen Platz. Die letzte Reihe bilden Rollstühle, Pötz bleibt gleich neben der Popcornmaschine sitzen, um nötigenfalls schnell einem Nachschlag zu bekommen. Bevor er in das Pflegeheim gezogen ist, war er eigentlich nie im Kino. Jetzt geht er jede Woche.

In den Woche zuvor liefen Tschitti Tschitti Bäng Bäng und Herbie – Ein toller Käfer. "Da standen die Räder richtig in der Luft", erzählt Pötz. Der Steirer bevorzugt Liebesfilme. "Das mögen die meisten, weil sie auch an ihr erstes Verliebtsein erinnert werden", sagt Köck. Gut gehen auch Heimatfilme. Actionfilme seien oft zu aufregend. Die Streifen, die gezeigt werden, sind aus den späten Fünfzigern oder den Sechzigern. Davor läuft eine Werbung aus derselben Zeitspanne.

So.
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Im Saal haben die Bewohner bereits Platz genommen. Die erste Reihe ist voll. Zwei Pflegerinnen verteilen Popcorn in Pappbechern und Softdrinks. Beim Vorspann zu Franz Antels Rote Lippen soll man küssen – Die ganze Welt ist himmelblau aus dem Jahr 1964 singen manche mit. Eine Frau in der ersten Reihe lächelt, sie ist mit ihrem Freund gemeinsam ins Kino gegangen. Die Pflegerin läuft hektisch durch die Reihen, weil sie vergessen hatte, das Popcorn zu salzen. Jetzt lächeln noch einige mehr und verlangen Salz. Nach der Titelmelodie wird es ruhiger. Popcorn fällt auf den Boden, Colaflaschen zischen. Der Film beginnt. (Andreas Hagenauer, Oona Kroisleitner, 31.10.2016)