Neuerdings gefallen sich die ÖVP-Politiker Mitterlehner, Schelling und Co in Wehklagen, Kanzler Kern würde sich zunehmend als "linker Ideologieträger" entpuppen, der einen "realen Sozialismus mit menschlichem Antlitz" verträte. Dies deshalb, weil Kern offenbar den Staat und eine EU-weite Erhöhung der öffentlichen Investitionen als Ausgleich zu den Härten der angeblich "freien" Marktwirtschaft wieder ins Spiel bringt.

Wer also meint, der Staat solle die Schwachen, die am angeblich "freien" Markt keine Chance haben, schützen, wer etwas gegen "unfaire Modernisierung" (und damit gegen den Rechtsruck) tun will sowie gegen wachsende soziale Ungleichheit, ist ein "linker Ideologe"?

Linke Ideen

Mitterlehner und Gesinnungsfreunde scheinen dabei weltanschaulich ziemlich desorientiert zu sein! Denn im christlich-sozialen Bereich brodelt es nur so von linken Ideen: Wer nämlich ein klares "Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung und der Disparität der Einkommen" sagt, wer meint "Diese Wirtschaft tötet", wer beteuert, dass es unglaublich ist, dass Menschen heute verhungern, erfrieren oder ertrinken, "während eine Baisse um zwei Punkte in der Börse Schlagzeilen macht", ist doch sicher auch ein verdächtiger linker Ideologe.

Wer zudem über "Ausbeutung und Unterdrückung" hinaus die zunehmende Gefahr der "Ausschließung" von Menschen anprangert und sagt, dass sie in diesem Wirtschaftssystem als "Müll, Abfall" behandelt würden, der ist dann ein ganz gefährlicher Linker.

Sozialismus mit menschlichem Anlitz

Und wer gar dafür ist, "die strukturellen Ursachen der Armut zu beheben", die "Probleme der Armen von der Wurzel her gelöst" haben möchte und die "Ungleichverteilung der Einkünfte" als "Wurzel aller sozialen Übel" sieht – Vorsicht! Das muss wirklich ein radikaler Vertreter eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz sein! Wenn er dann noch dazu aufruft, "nicht mehr auf die blinden Kräfte und die unsichtbare Hand des Marktes zu vertrauen", dann sollten wir den Verfassungsschutz auf ihn ansetzen, um die öffentliche Sicherheit garantieren zu können!

Dem Fass den Boden aber schlägt aus, wenn so ein linker Rabauke zum Thema Nummer eins meint, dass "Solidarität gegenüber den Migranten und den Flüchtlingen (...) notwendig ist, um weltweit eine gerechtere und angemessenere Wirtschafts- und Finanzordnung zu entwickeln". So weit kommt's noch!

Etikettenschwindel

Es ließen sich noch jede Menge andere Zitate – nicht einfach "Sager", sondern Textstellen – zitieren, die allesamt – da schau her: – aus apostolischen Schreiben von Papst Franziskus stammen! In der ÖVP dürfte man das offenbar nicht kennen oder sich so weit davon entfernt haben, dass alles "Christliche" im Parteistatut nur ein Etikettenschwindel sein kann, wo es hieße: "Grundlage unserer Politik ist das christlich-humanistische Menschenbild" und "Wir bekennen uns dazu, dass das Maß des Wirtschaftens stets der Mensch sein muss. Die Wirtschaft soll dem Menschen dienen, nicht umgekehrt".

Warum, liebe schwarze Freunde, ist dann der Bundeskanzler ein "linker Ideologe", wenn er sozusagen "papsttreu" korrigierende Maßnahmen zu den in der "freien Marktwirtschaft" unübersehbaren Problemen fordert? Sind die (zumindest aufrechten) Roten näher am Christlich-Sozialen als ihr (immer weniger werdende) Schwarze? Warum sitzt ihr bei den entsprechenden festlichen Anlässen im Stephansdom oder in den führenden Landeskirchen andächtig in den ersten Reihen und tut, als ob das der stimmigste Ort für Politiker wäre, die diesen christlichen Grundsätzen krass zuwiderhandeln?

Jesus von Nazareth hätte euch wahrscheinlich aus dem Tempel gejagt wie einst die Händler und Geldwechsler in Jerusalem. Spürt ihr nicht das Brutzeln des Fegefeuers, wenn ihr euch in einem hellen Moment einmal eure harte Haltung gegenüber den Notleidendsten, den Mindestrentnern, den ausgebeuteten 2,50-Euro-Flüchtlingsarbeiter, den Ertrinkensgefährdeten im Mittelmeer, den Modernisierungsverlierern usw. vergegenwärtigt?

Neubesinnung

Nicht nur die Sozialdemokratie, auch die "Bürgerlichen" brauchen eine Neubesinnung auf ihre weltanschaulichen Wurzeln. Das hat nichts mit "Ideologie" zu tun, im Gegenteil: Ideologie ist es, das Bewusstsein der Menschen so zu vernebeln, dass realpolitisch gar nichts anderes möglich sei, dass mehr Menschlichkeit zu viel kostete, dass wir gegen die immer weniger werdenden immer Reicheren und gegen die klaffende Schere zwischen Arm und Reich nichts tun könnten oder dass es beispielsweise einen "Notstand" gäbe, wo man zugleich nicht mal weiß, ob die Anzahl gnädigerweise zugelassener Asylanten erreicht wird – das sind Beispiele von Ideologie, und zwar der menschenverachtendsten Art.

Es besteht aber wenig Hoffnung, dass dies anders wird: Als nächster Ideologe steht schon ein Jungstar vor der Tür, der als Hoffnungsträger für Schwarz gilt und der die zitierten christlich-sozialen Anliegen noch eher in den Wind schlägt als sein Vorgänger – ein weltanschaulicher "Kurz-Schluss" sozusagen. Da könnt' einem wirklich schwarz vor den Augen werden. (Josef Christian Aigner, 30.10.2016)