Brüssel – EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker will bei künftigen Handelsabkommen das Europaparlament und die Öffentlichkeit frühzeitig einbinden. Angesichts der Kritik und der Verzögerungen bei dem am Sonntag unterzeichneten EU-Kanada-Vertrag sagt Juncker im STANDARD-Interview, mit der bisherigen Vorgangsweise sei der Eindruck entstanden, dass Verhandlungen im Hinterzimmer stattfänden: "Das kann man so nicht mehr machen."
Der Luxemburger betont allerdings auch, dass er bei seinem Amtsantritt einen fertig verhandelten Entwurf vorgefunden habe. Zu Ceta stellt er klar, dass der auf EU-Kompetenzen beruhende Teil des Vertrags mit Jahreswechsel in Kraft treten werde. In Österreich erneuerte Präsidentschaftskandidat Norbert Hofer (FPÖ), dass er den Pakt nur nach vorheriger Volksabstimmung ratifizieren werde. Die Wirtschaftskammer rief zu einer raschen Ceta-Unterzeichnung in allen 28 Mitgliedsstaaten der EU auf. Greenpeace und Global 2000 äußerten die Hoffnung, dass das Abkommen in seiner jetzigen Form nicht in Kraft treten werde.
Juncker warnt zudem vor den Folgen der "rechtspopulistischen Vereinfachungs- und Verführungsmaschine", die wieder angeworfen worden sei: "Wenn man europäische Geschichte kennt, weiß man, was daraus entsteht." Daher müsse man den Anfängen wehren. Allerdings komme derzeit erschwerend hinzu, "dass auch klassische politische Familien und ganze Regierungen die Populisten nachäffen". Das halte er für einen "hochgefährlichen Trend, der sich langsam, aber sicher in die europäische Landschaft hineinfrisst".
Keine Illusionen macht sich Juncker über die Tragweite des EU-Austritts der Briten. Der Brexit sei ein "epochaler Einschnitt", sagte er.
STANDARD: Nach dem Hin und Her um die Absage des EU-Kanada-Gipfels ging es dann doch schnell, wozu der Zeitdruck?
Juncker: Der hätte auch später stattfinden können. Wichtig war nicht, wann unterschrieben wird, sondern dass unterschrieben wurde. Ich bin zufrieden, dass es für 28 Regierungen unterschriftsreif wurde. Der Rest waren technisch-organisatorische Dinge.
STANDARD: Was tritt ab 1. Jänner in Kraft, was muss erst im Ratifizierungsverfahren in den nationalen Parlamenten entschieden werden?
Juncker: Es wird der Teil in Kraft treten, der nur die Kompetenzen der Europäischen Union betrifft. Was die Mitgliedstaaten angeht, das wird nicht in Kraft treten, und dabei ist besonders die Investitionsschutzklausel erwähnenswert. Die wird erst nach Zustimmung der verschiedenen Parlamente auf nationaler Ebene in Kraft treten können.
STANDARD: Hat sich durch die Erklärungen, die Belgien zuletzt verlangte, etwas am Vertrag geändert?
Juncker: Es wird sich an dem, was vor dem belgischen Intermezzo auf dem Tisch lag, nichts ändern am Vertrag, inhaltlich gesehen. Das, was wir in mühseliger Kleinarbeit als Kommission mit den belgischen Partnern in die Wege geleitet haben, sind Präzisierungen, begriffliche Klarstellungen, die uns keine großen Anstrengungen abverlangt haben, weil wir das sehr ähnlich sehen. Das trifft auch auf das zu, was ich mit Bundeskanzler Christian Kern besprochen habe. Was nachgereicht wurde, sind Begriffsbestimmungen, die aber – das muss man betonen – bei der gemeinsamen Interpretation des Vertrags helfen.
STANDARD: Bürger stellen sich die Frage, was Ceta für ihr Leben bedeutet. Antwort?
Juncker: Bevor sich so ein Handelsvertrag entfaltet, braucht es ja eine gewisse Zeit. Wir als Europäer kriegen Zugang zu allen kanadischen Märkten, inklusive den Provinzen. Letzteres ist deshalb so wichtig, weil die Wirtschaft in Kanada in erster Linie in den Provinzen stattfinden wird, nicht so sehr in der Hauptstadt. Vieles, was man dem Ceta-Vertrag unterstellt hat, wird nicht passieren, dass er zum Beispiel die Daseinsfürsorge bei uns negativ beeinflussen würde oder dass es zur Privatisierung der Wasserversorgung käme.
STANDARD: Was haben wir davon?
Juncker: Nach einer gewissen Laufzeit wird es sich auf die Beschäftigungslage auswirken. Wir gehen davon aus, dass das Kanada-Abkommen in Europa 200.000 Arbeitsplätze schaffen wird, netto. Ich sage das, weil ich analog dazu immer mitdenke, was andere Handelsabkommen der EU gebracht haben, zum Beispiel mit Südkorea. Eine zusätzliche Exportmilliarde bringt rund 14.000 Arbeitsplätze, so viel kann man aus Statistiken ableiten.
STANDARD: Warum musste man neben dem Wegfall der Zölle den regulativen Bereich dazunehmen, warum musste man Investoren extra schützen?
Juncker: Dass man im Vertrag zu den Investitionsschutzmaßnahmen etwas sagt, ist normal. Das ist bei allen Handelsverträgen so. Die EU hat rund 140 Handelsverträge in der ganzen Welt verhandelt oder ist dabei, das zu tun. Man muss Streitfälle regeln können. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass mein Vorgänger José Manuel Barroso und Präsident Herman Van Rompuy 2014 einen Vertrag paraphiert haben, der die alte Regelung, die privaten Schiedsgerichte, vorsah.
STANDARD: Die ISDS, die als völlig intransparent kritisiert wurden, mit Anwälten statt Richtern.
Juncker: Ich habe in Gesprächen mit dem kanadischen Premier Stephan Harper, dem Vorgänger von Justin Trudeau, darauf gedrängt, dass man dieses Kapitel wieder aufmachen soll, um eine andere Form der internationalen Gerichtsbarkeit zu bekommen, näher an den normalen juristischen Verläufen. Ich habe ihm gesagt, das kann sonst in Europa nicht laufen. Das hat er dann gemacht.
STANDARD: Also lagen die Probleme eher auf der europäischen Seite?
Juncker: Ich schreibe mir schon zu, dass ich die Kanadier dazu bewegt habe, diese Investitionsgerichte auf den Prüfstand zu stellen. Deshalb war es mir peinlich, als man zuletzt plötzlich anfing, so zu tun, als würden auch andere Vertragsbestimmungen zur Revision anstehen. Das war nicht so. Mit den Belgiern hat man Präzisierungen vorgenommen, etwa wie die Richter in diesen Investitionsgerichten ernannt werden, wie sie bezahlt werden und einiges mehr.
STANDARD: Und warum muss der regulatorische Bereich einbezogen werden, etwa der Umweltbereich?
Juncker: Ich glaube, wir müssen uns in Zukunft stärker auf zweierlei konzentrieren. Erstens sollte nicht alles, was zur Regelung anstehen könnte, in solche Vertragstexte eingepackt werden. Sie werden sonst zu voluminös, unübersichtlich, geben Anlass zu vielen Unterstellungen, und das ist nicht gut. Man sollte diese Handelsabkommen etwas kürzer fassen.
STANDARD: Und noch?
Juncker: Man müsste von Anfang an deutlicher machen, welche Teile eines Handelsvertrags durch die Europäische Union, also Kommission, Rat und Parlament, zu ratifizieren sind, und welche anderen Teile den nationalen Parlamenten zur Genehmigung zuzuweisen sind. Das wäre sinnvoll, damit wir diese Debatte nicht nochmal erleben müssen.
STANDARD: Das bedeutet aber, dass man über Verhandlungsmandate neu nachdenkt, das EU-Parlament will mitreden. Sind Sie dafür?
Juncker: Ich hätte das gern, obwohl es dem EU-Vertrag nach eigentlich eine Aufgabe der Kommission ist. Es sollte eine Vordebatte im Europäischen Parlament geben, auch über Teile des Mandats. Dies wäre im Sinne der Kommission, weil wir dann Richtlinien in der Hand haben, die es uns erlauben, uns an ihnen entlang zu bewegen, konzentriert zu Ergebnissen zu kommen, ohne dass man die Grundkompetenz der Kommission infrage stellt. Und ich wünsche mir auch eine viel breitere öffentliche Diskussion. Was mich stört, ist, dass sehr viele denken, man würde ihnen nicht sagen, was Sache sein wird, man würde etwas verschweigen.
STANDARD: Wo lagen dabei die Fehler in der Vergangenheit?
Juncker: Ich habe Ceta abschlussreif vorgefunden. Auch TTIP, das geplante Handelsabkommen der EU mit den USA, habe ich in einem, sagen wir, nicht ganz transparenten Raum vorgefunden. Ich möchte das ganz anders machen, denn die Art, wie wir verhandeln, dass wir nicht ständig auch Informationsarbeit in den Mittelpunkt stellen, erzeugt erst den Eindruck, als ob in Hinterzimmern etwas ausgehandelt wird. Das kann man so nicht mehr machen. Bei allem Missvergnügen über die Lügenkampagnen, die bei Ceta und teilweise auch bei TTIP gelaufen sind: Man muss reagieren.
STANDARD: Was bedeutet das für die Verhandlungen zu TTIP?
Juncker: Ich glaube nicht, dass wir einen ganz neuen Ansatz brauchen. Es gibt das Mandat. Aber wir werden maximal informieren.
STANDARD: In der Rede zur Lage der Union haben Sie offen kritisiert, dass die Ziele und die Arbeit der EU-Institutionen und der Staaten noch nie so weit auseinanderklafften, nationaler Egoismus nie so stark war. Was bedeutet was?
Juncker: Ich habe noch nie in einem so großen Umfang wie heute erlebt, dass die Regierungen der Nationalstaaten in Brüssel Entscheidungen treffen, ob einstimmig oder mit Mehrheit, und sich dann ihren eigenen Entscheidungen nicht verpflichtet fühlen, zumindest in Teilen. Das ist für mich deshalb ein bewegendes Thema, weil die Europäische Union zuerst eine auf dem Recht beruhende Gemeinschaft ist. Wenn wir unser eigenes Recht nicht mehr respektieren, gehen wir einen gefährlichen, einen abenteuerlichen Weg.
STANDARD: In einer anderen Passage in Ihrer Rede zur Lage der Union haben Sie auf Ihren Vater Bezug genommen. Der habe an Europa und seine Werte geglaubt, weil er wusste, wie kostbar der Friede in Europa war, aber auch wie zerbrechlich. Halten Sie einen Krieg in Europa für möglich?
Juncker: Wir denken, dass zwei Dinge unabdingbar in die Geschichte einbetoniert sind. Das sind der Erhalt der europäischen Werte und der Friede. Nicht dass ich den Menschen oder den Nationen nicht trauen würde, aber ein Blick in die Geschichte zeigt, dass man vorsichtig sein muss und dass man den Anfängen wehren muss. Ich halte es mit Brecht: "Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch."
STANDARD: Ein Zitat aus dem Epilog von Bert Brechts "Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui", einer Parabel auf den Aufstieg Adolf Hitlers.
Juncker: Und das sieht man ja auch jetzt überall. Ich kenne kein Land, wo dem nicht so wäre. Da merkt man, dass diese rechtspopulistische Vereinfachungs- und Verführungsmaschine wieder angeworfen wurde. Wenn man europäische Geschichte kennt, weiß man, was daraus entsteht. Und deshalb bin ich der Auffassung, dass man den Anfängen wehren muss, dass man das nicht einfach durchwinken darf, dass das nicht unwidersprochen bleiben darf. Das wäre eine Art der Geschichtslosigkeit aus Bequemlichkeitsgründen, die ich hinzunehmen nicht bereit bin. Ich möchte gegen diese Kräfte auftreten. In dem Maß allerdings, wo auch klassische politische Familien und ganze Regierungen die Populisten nachäffen, um die besseren Vereinfacher zu werden, ist das ein, wie ich finde, hochgefährlicher Trend, der sich langsam, aber sicher in die europäische Landschaft hineinfrisst.
STANDARD: Wie beschreiben Sie 500 Millionen EU-Bürgern die Lage in einfachen Worten?
Juncker: Ich würde sagen, die Welt und ihre Zukunft ist für die Europäer voller Chancen. Aber sie ist auch komplizierter, als sie es jemals war. Und sie ist auch viel gefährlicher geworden. Die Geschichte war immer tragisch, und das Weltgeschehen gefährlich. Aber wir müssen heute sehen, dass es für die Europäer gefährlicher geworden ist. Der Krieg ist an unsere Grenzen gerückt. Syrien ist ein Nachbarland der Europäischen Union. Zypern liegt fast in Sichtweite zu Syrien, die Ukraine liegt in Europa. Das Spannungsfeld von Krieg und Frieden, als das Europa oft beschrieben wurde, das hat uns wieder ereilt. Ich weiß nicht, wo die Grenze liegt, wann das auf uns überschwappen könnte. Aber man merkt ja schon am islamistischen Terror, dass kriegerische Auseinandersetzungen wieder in Europa stattfinden können. (Thomas Mayer, 30.11.2016)