Und Sejla schreibt: "Meine Freunde, schickt mir weißen Jasmin, dass ich meine Heimat riechen kann."

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Maisa war zwei Jahre jünger als ich. Sie hatte lange blonde Haare und ein rundes Gesicht. Sie war etwas mollig, trug gerne Jeans. Ihr Wesen war sehr ruhig, sie sagte kaum ein Wort. Wenn wir im Kreis saßen und unsere Texte vorlasen, drängte sie sich nie auf, sie wartete, und nur, wenn sie an der Reihe war, las auch sie, was sie geschrieben hatte. So auch an jenem Nachmittag im Herbst 1994. Es ist lange her.

Maisas Text erzählte vom Krieg in Bosnien, erzählte von zwei weißen Häusern. In dem einen Haus wurden die Gefangenen festgehalten, ins andere wurden sie hinübergebracht, um befragt zu werden. Die Befragungen bestanden hauptsächlich aus Folter. Nach der Befragung wurden die Gefangenen wieder in das erste Haus gebracht. Es waren die Erfahrungen ihres Vaters, die Maisa in ihrem Text festgehalten hatte. Ich weiß noch, wie vor meinem inneren Auge diese zwei weißen Häuser auftauchen als ich ihr zuhörte. Man konnte förmlich den Gestank der verdreckten Zellen riechen und die blutverschmierten, aufgequollenen Gesichter der gefangenen Männer sehen. Aus dem anderen Haus hörte man die verzweifelten Schreie, die irgendwann immer leiser wurden, bis sie verstummten, erstickt in der Dunkelheit detonierender Granaten und Schüsse.

Zu viel Wahrheit für ein Kind

Ihr Text war in einer Knappheit verfasst, der fast einer journalistischen Reportage glich, emotionslos, an ausgewählten Stellen detailhaft, an anderen nur schematisch. Und sie las ihn genauso emotionslos. Wir hörten zu, die Stille hatte den Raum völlig eingenommen. Die Reportage einer Dreizehnjährigen brachte uns den Krieg in ihrer Heimatstadt in Bosnien zum Gefrieren nahe. Wir waren selbst nicht viel älter, es war meine erste so nahe Erfahrung mit Flucht und Krieg.

Am Abend hörte ich unsere erwachsenen Betreuer tuscheln: Wie kann man einem Kind solche Dinge erzählen? Wie kann man ein Kind mit dieser Wahrheit belasten? Wir waren eine Gruppe Jugendlicher aus Österreich und eine Gruppe jugendliche Flüchtlingskinder aus den Kriegsgebieten im damaligen Jugoslawien, oder zumindest dem was davon übrig war. Wir besuchten zusammen eine literarische Schreibwerkstatt. Die jungen Flüchtlinge lebten seit zwei Jahren in Österreich und hatten ihre Texte auf Deutsch geschrieben. Ich erinnere mich, wie beeindruckt ich davon war, dass jemand in nur zwei Jahren eine Sprache so gut beherrschte, um sich in ihr literarisch ausdrücken zu können. Vielleicht waren die Jugendlichen motiviert, weil im Rahmen des Steirischen Herbstes die Initiative gestartet wurde, ihre Geschichten hörbar zu machen. In einem für sie fremden Land wollte plötzlich jemand wissen, was ihre Geschichte war.

Schreiben über die Sehnsucht

Sie erzählten also vom Krieg, von den Granaten, von der Freundin die vergewaltig wurde, von der Mutter, die nicht mitkam auf die Flucht, von der Einsamkeit ohne Anschluss an Freunde zu leben, von der Sehnsucht an geliebte und bekannte Gerüche und Geschmäcker. Immer wieder erzählten sie, wie sehr sie sich nach Freundschaft sehnten. "Ich möchte hier ausgehen, feiern, einfach Freunde finden, die mir helfen können, dass ich meine großen Sorgen vergessen kann", schreibt Edina. Und Sejla schreibt: "Meine Freunde, schickt mir weißen Jasmin, dass ich meine Heimat riechen kann."

Ich weiß nicht was aus Maisa geworden ist. Ich glaube, sie hat mit dem literarischen Schreiben nicht weitergemacht. Ihre Geschichte werde ich nie vergessen. Und viele Momente der aktuellen Situation der geflüchteten Menschen erinnern mich an damals, an Maisa, an ihren Vater und dessen Geschichte. Und wenn ich den jungen Flüchtlingen heute zuhöre, sind es die gleichen Sehnsüchte und Träume und die gleiche Verzweiflung, die damals aus den Geschichten sprach, die bei unserer Literaturwerkstatt gelesen wurde.

Was wir gemeinsam haben

Mit folgenden Worten beschreibt Somerset Maugham die Gesellschaft in Honolulu Anfang des 20. Jahrhunderts, und ist damit aktueller denn je: "Alle diese verschiedenen Menschen leben dicht beieinander, sprechen verschiedene Sprachen, denken verschiedene Gedanken, glauben an verschiedene Götter und hängen an verschiedenen Werten; zwei Triebe aber haben sie gemeinsam: Hunger und Liebe".

Es sind also doch die zwei wichtigsten Triebe, die wir alle immer gemeinsam haben werden, ob wir wollen oder nicht. (Zwetelina Ortega, 31.10.2016)