Tobias Eberwein: Dadurch, dass er unterschiedlichen Perspektiven und Ansätzen Raum bietet, trägt der Bürgerjournalismus zur Pluralisierung des Journalismus bei.

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Vor gar nicht allzu langer Zeit galt der digitale Bürgerjournalismus als großer Hoffnungsträger einer gebeutelten Medienbranche. Geradezu euphorisch beschworen seine Vertreter und Fürsprecher die besonderen Potenziale der Laienberichterstattung im Netz: Jeder könne mitmachen, kein Thema sei tabu, mehr Transparenz, mehr Authentizität, mehr Dialog – und überhaupt: Wer brauche eigentlich noch teuer bezahlte Redakteure, wenn die Amateure in der Onlinewelt ohnehin die besseren Journalisten sind?

Die "Laien" professionalisieren sich

Heute sind derartig berauschte Töne nur noch selten zu hören. Zwar steckt der Journalismus nach wie vor in der Dauerkrise – die Revolution von unten ist jedoch ausgeblieben. Grund dafür ist unter anderem die Einsicht, dass es für digitale Bürgerjournalisten eben doch nicht so einfach ist, ohne spezifisches Training gängige Qualitätsstandards zu wahren. In der Folge hat auch im Feld des Bürgerjournalismus ein Trend zur Professionalisierung eingesetzt – und zu einer nüchterneren Betrachtung des Verhältnisses zwischen den beteiligten Akteuren geführt.

Das verdeutlicht eine aktuelle Studie des Instituts für vergleichende Medien- und Kommunikationsforschung (CMC) an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und der Alpen-Adria-Universität. Aus international vergleichender Perspektive wurde dafür der Status quo des digitalen Bürgerjournalismus in sechs europäischen Ländern (neben Österreich, Deutschland und der Schweiz auch in Großbritannien, Italien und Polen) nachgezeichnet. Problemzentrierte Interviews mit fast 60 Praktikern halfen dabei, ihren Hintergrund, ihre Motive und ihr Verständnis von journalistischer Qualität zu beleuchten.

Enger Kontakt zu den Mainstreammedien

Die Erhebung zeigt, dass Bürgerjournalisten im Netz längst in der Mitte des Mediensystems angekommen sind. Zwar existiert national wie international eine Vielzahl bürgerjournalistischer Onlineprojekte, die – losgelöst von jeglichen kommerziellen Interessen – von Einzelpersonen betrieben werden und sich mit unterschiedlichsten Themen befassen. Immer mehr Plattformen bauen jedoch auf redaktionsähnliche Strukturen, funktionieren arbeitsteilig und verfolgen klare unternehmerische Konzepte. Nicht selten besteht ein enger Kontakt zu traditionellen journalistischen Medienhäusern – natürlich erst recht, wenn diese versuchen, Nutzer aktiv in die Gestaltung ihrer Inhalte einzubinden (wie auch in den User-Beiträgen auf derStandard.at).

Auch die medienpraktischen Vorerfahrungen vieler Bürgerjournalisten lassen eine Professionalisierung des Feldes erkennen. Zwar gibt es nach wie vor Akteure, die in ihrem bisherigen Berufsleben kaum je mit Fragen der journalistischen Recherche oder der Textproduktion zu tun hatten.

Nicht wenige von ihnen nutzen jedoch gezielt journalistische Weiterbildungsangebote, um sich auf ihre Tätigkeit als Bürgerjournalisten vorzubereiten. Andere absolvieren gerade ein medien- oder kommunikationswissenschaftliches Studium – und sehen ihr Engagement für eine bürgerjournalistische Webseite als Chance, um die Redaktionspraxis kennenzulernen. Wieder andere haben bereits eine komplette journalistische Berufsausbildung abgeschlossen – und geben ihr Erfahrungswissen nun an weniger erfahrene Mitstreiter innerhalb eines Projektes weiter. Als "Laien" lassen sich all diese Akteure kaum noch bezeichnen.

Heterogenität als Chance

Eine Vereinheitlichung des Bürgerjournalismus in Europa lässt sich daraus aber nicht ableiten. Ganz im Gegenteil zeigt die CMC-Studie, dass die Bandbreite unterschiedlicher Formen und Formate im Netz gegenwärtig kaum noch zu überblicken ist. Dementsprechend variieren auch die Motive, die Bürgerjournalisten dazu bringen, sich für ein bestimmtes Projekt einzusetzen.

Während einige der Akteure ein vorwiegend technisches Interesse am partizipativen Publizieren haben, stehen bei anderen die Vermittlung von Expertenwissen, ein (wie auch immer ausgerichtetes) politisches Sendungsbewusstsein, das Ziel der Gemeinschaftsbildung oder schlicht die Freude am Schreiben im Vordergrund. Kein Wunder also, dass unter den Akteuren auch die Vorstellungen darüber auseinandergehen, was guter Journalismus ist.

Dies als Defizit zu werten, wäre jedoch falsch, denn gerade in dieser Heterogenität liegt die große Chance des digitalen Bürgerjournalismus: Dadurch, dass er unterschiedlichen Perspektiven und Ansätzen Raum bietet, trägt er zur Pluralisierung des Journalismus bei. Er tut dies allerdings nicht mehr in Konkurrenz zu herkömmlichen journalistischen Akteuren, sondern vielmehr als Ergänzung dazu. In diesem Sinne sorgt er für eine nachhaltige Belebung des Mediensystems – von innen, nicht von außen. (Tobias Eberwein, 2.11.2016)