Der Zusammenhang zwischen Lehrlingsausbildung und Gewerbeordnung ist nicht so stark ausgeprägt, wie die Wirtschaftskammer behauptet.

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Wien – Alle österreichischen Parteien außer die ÖVP untergraben das heimische Erfolgsmodell der Lehrlingsausbildung. So könnte man die Haltung der Wirtschaftskammer interpretieren, die sich mit Händen und Füßen gegen die nun großteils abgeblasene Reform der Gewerbeordnung gewehrt hat. Denn die ÖVP, in der die Kammer traditionell viel Einfluss hat, ist die einzige Partei, die sich gegen eine Liberalisierung ausspricht.

Und auf den ersten Blick ist das Argument der Kammer auch nicht unstimmig. Wer eine Firma gründen möchte, etwa eine Werkstatt, braucht in Österreich in vielen Fällen eine Meisterprüfung. Die berechtigt dazu, Lehrlinge auszubilden. Fällt die Meisterpflicht mit einer Öffnung weg, könnten weniger Lehrlinge ausgebildet werden. Die Lehre ist ein international bewundertes Erfolgsmodell, das viele Länder zu kopieren versuchen. Jugendliche sind in Österreich auch relativ selten arbeitslos. Ein Erfolgsmodell zu gefährden wäre in der Tat stumpfsinnig.

Das Problem mit den Argumenten der Wirtschaftskammer: Sie sind laut Experten überzogen oder nachweislich falsch.

Nur grobe Schätzung

Da wäre zum einen eine Berechnung der KMU Forschung Austria. Würde man die reglementierten Gewerbe zusammenkürzen, könnte fast jeder zweite Lehrplatz im Handwerk wegfallen, schreibt die Kammer in einer Presseaussendung mit Bezug auf das Forschungsinstitut. Das wäre ein massiver Einschnitt. Ein Anruf beim Direktor des Instituts, Walter Bornett, relativiert das Ganze.

Das sei keine Studie, sondern eine grobe Schätzung, die er heute so nicht mehr machen würde. Er bittet, die Zahl nicht zu verwenden. Ob sich eine Liberalisierung negativ auf die Zahl der Lehrplätze auswirken würde, kann er nicht einschätzen. "Dazu müsste man eine detaillierte Studie machen."

Ein weiteres Argument: Nach der Reform in Deutschland 2004 ist es zu einer "Entqualifizierungsspirale gekommen", sagt Reinhard Kainz, Chef der Sparte Gewerbe und Handwerk in der Kammer, zum STANDARD. Dazu beruft er sich unter anderem auf eine Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Mai 2016. Wer sie liest, staunt. Denn in der Studie steht davon nichts.

Deutschland hat die Zahl der reglementierten Gewerbe 2004 mehr als halbiert, von 91 auf 41. Für den Uhrmacher braucht es seither keinen Meisternachweis mehr, in Österreich nach wie vor. Besagte Studie findet weder positive noch negative Auswirkungen auf Jobs, Löhne oder Qualifikation der Mitarbeiter.

Keine Belege

Der Wirtschaftssprecher der ÖVP, Peter Haubner, bringt im Gespräch mit dem STANDARD ein weiteres Argument: In Deutschland würden seit der Reform nur mehr Einpersonenunternehmen entstehen, die nicht ausbilden. "Ist der Meister weg, ist der Lehrplatz weg", heißt es aus der Kammer.

Auch hier kommt die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zu einem anderen Ergebnis. Die Zahl der Lehrlinge geht in Deutschland zwar zurück, der Rückgang ist in den liberalisierten Gewerben aber genauso stark wie in den reglementierten. Es gibt also keinen Zusammenhang mit der Reform.

Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) kommt zum selben Ergebnis. "Es gibt überhaupt keine Belege dafür, dass die Lehrausbildung durch die Reform gefährdet wäre", sagt Autor Karl Brenke zum STANDARD. Er sieht die Reform positiv, die Zahl der Firmengründungen sei massiv gestiegen.

Vermeintlicher Rückgang

Die Wirtschaftskammer führt noch eine weitere Studie an. Sie stammt von einem Institut der Uni Göttingen, dessen Trägerverein der Chef der niedersächsischen Handwerkskammer vorsteht. Sie kommt tatsächlich zum Ergebnis, dass die Reform die deutsche Berufsausbildung gefährde.

Begründet wird das damit, dass der Anteil der Betriebe, die Lehrlinge ausbilden, stark zurückgeht. DIW-Ökonom Karl Brenke hält diese Argumentation für verzerrend. Denn die Zahl der Firmen, die ausbilden, sei konstant. Weil es viele neue Betriebe gebe, die nicht sofort Lehrlinge einstellen, sei der Anteil gesunken.

Beim heimischen Wifo sieht man das ähnlich. Die deutsche Reform habe keine negativen Auswirkungen gehabt, sagt Michael Böheim. "Wenn man Angst um die Lehre hat, muss man nicht mit der Gewerbeordnung kommen", sagt er. Vielmehr müsse der Stellenwert der Ausbildung steigen. Firmen würden jedenfalls auch ohne Meisterpflicht qualifizierte Mitarbeiter benötigen und ausbilden. (Andreas Sator, 4.11.2016)