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Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ.

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Festnahme in Ankara.

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Auch die kurdische Politikerin Sebahat Tuncel wurde festgenommen.

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Ankara/Berlin – Bei nächtlichen Razzien hat die türkische Polizei mindestens elf Abgeordnete der prokurdischen Oppositionspartei HDP festgenommen, darunter die beiden Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ. Die Staatsanwaltschaft habe die Festnahme von insgesamt 15 HDP-Abgeordneten angeordnet, die Vorladungen nicht gefolgt seien, teilte die Regierung mit. Ein Gericht in der Kurdenmetropole Diyarbakır habe am Freitag Haftbefehl gegen Demirtaş und Yüksekdağ erlassen, meldete die Nachrichtenagentur Anadolu.

Demirtaş wurde laut Anadolu in seiner Wohnung in Diyarbakır festgenommen, Yüksekdağ in Ankara. Auch HDP-Fraktionschef İdris Baluken wurde in Gewahrsam genommen. Der Sender NTV meldete am Freitag die Festnahme eines zwölften Abgeordneten. Gegen Demirtaş und Yüksekdağ liefen seit längerem Ermittlungsverfahren wegen "Terrorpropaganda und Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation". Die türkische Regierung wirft der linksliberalen HDP vor, der politische Arm der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu sein, was die Partei zurückweist.

Proteste in mehreren Städten

Bei Protesten gegen die Festnahmen wurde am Freitag eine kurdische Politikerin vor dem Gericht in Diyarbakır gewaltsam festgenommen. Sebahat Tuncel, Chefin der kleinen kurdischen Partei DBP, befinde sich im Krankenhaus, teilte Parteisprecher Merdan Berk mit. Über ihren Gesundheitszustand war zunächst nichts bekannt.

Auch in Istanbul habe es Demonstrationen gegeben, berichteten Anadolu und mehrere Reporter. In den Stadtteilen Kadıköy und Esenyurt gerieten nach Angaben von Anadolu Demonstranten und Sicherheitskräfte aneinander, sieben Menschen seien festgenommen worden. In Esenyurt habe die Polizei Wasserwerfer und Tränengas eingesetzt. Auch im Stadtteil Tarlabaşı setzte die Polizei Tränengas ein, wie auf Bildern lokaler Reporter zu sehen war.

Internetsperre

Die türkische Regierung räumte unterdessen ein, dass die Behörden den Zugang zum Internet eingeschränkt haben. Es handle sich um eine vorübergehende Maßnahme, die aus Sicherheitsgründen angeordnet worden sei, sagte Ministerpräsident Binali Yıldırım am Freitag. "Sobald die Gefahr vorbei ist, wird alles wieder normal funktionieren."

In den Kurdengebieten in der Südosttürkei und in anderen Regionen sperrten die Behörden in der Nacht auf Freitag den Zugang zu sozialen Medien, auch Whatsapp funktionierte nicht mehr. In Istanbul und Diyarbakır war zeitweise das mobile Internet per Handy nicht zu erreichen. Regierungskritiker in der Türkei nutzen soziale Medien, um Informationen auszutauschen oder Demonstrationen zu organisieren. Auch für die verbliebenen kritischen Journalisten sind soziale Medien eine wichtige Quelle geworden.

Immunität aufgehoben

Auf Betreiben Erdoğans war im Juni die Immunität zahlreicher Abgeordneter aufgehoben worden. Die Maßnahme richtete sich vor allem gegen die HDP. 55 der 59 HDP-Abgeordneten verloren zumeist wegen Terrorvorwürfen ihre Immunität. Sie weigerten sich aber, gerichtlichen Vorladungen Folge zu leisten. Erdoğan beschuldigt die zweitgrößte Oppositionspartei, der verlängerte Arm der PKK zu sein.

Justizminister Bekir Bozdağ sagte, die Festnahmen von Abgeordneten seien rechtskonform gewesen. Weder die deutsche Kanzlerin Angela Merkel noch EU-Kommissare hätten das Recht, der Türkei "Lehren zu erteilen", betonte er. "Sie müssen sehen und verstehen, dass die türkische Justiz genauso neutral und unabhängig ist wie die deutsche."

Kritik an Deutschland

Bozdağ griff zugleich Deutschland scharf an. "Rechtsstaat und Freiheiten gibt es nur für Deutsche", sagte der Minister. "Wenn Sie ein Türke in Deutschland sind, haben Sie überhaupt keine Rechte." Erdoğan hatte Deutschland am Donnerstag vorgeworfen, Terroristen Unterschlupf zu bieten, statt "rassistische Übergriffe auf Türken" zu verhindern. "Man wird sich zeitlebens an euch erinnern, weil ihr den Terror unterstützt habt", sagte Erdoğan.

Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier erwiderte: "Ich kann die Äußerungen Erdoğans zur Sicherheitslage Deutschlands überhaupt nicht nachvollziehen." Merkel hatte schon am Mittwoch die neuerlichen Festnahmen türkischer Journalisten wegen angeblicher Terrorunterstützung kritisiert.

Geschäftsträger in Wien und Berlin einbestellt

Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) entschied am Freitag, den Geschäftsträger der türkischen Botschaft in Wien einzubestellen. Damit solle die Bedeutung der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit unterstrichen werden und Unmut und Unverständnis über die Verhaftung der Oppositionspolitiker ausgedrückt werden, sagte ein Kurz-Sprecher.

Auch Steinmeier ließ den türkischen Gesandten in Berlin ins Auswärtige Amt einbestellen. "Die nächtlichen Festnahmen von Politikern und Abgeordneten der kurdischen Partei HDP sind aus Sicht des Außenministers eine weitere drastische Verschärfung der Lage", hieß es in Diplomatenkreisen. Niemand bestreite das Recht der Türkei, der Bedrohung durch den Terrorismus entgegenzutreten und den Putschversuch vom Juli mit rechtsstaatlichen Mitteln aufzuarbeiten. "Das darf aber nicht als Rechtfertigung dafür dienen, die politische Opposition mundtot zu machen oder gar hinter Gitter zu bringen."

Özdemir spricht von Putsch

Der Co-Chef der deutschen Grünen, Cem Özdemir, rief die deutschen Parteien am Freitag zum gemeinsamen Handeln auf: "Ich schlage vor, dass alle demokratischen Parteien, die im Bundestag vertreten sind, gemeinsam agieren." Der Protest gegen Erdoğans Vorgehen bekomme mehr Gewicht, wenn die Fraktionen von der CDU/CSU bis zur Linkspartei eine gemeinsame Stimme hätten. Das Drangsalieren von Medien und Opposition in der Türkei sei "eine Art Putsch".

Özdemir sprach sich erneut gegen den formellen Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aus, da das Erdoğan in die Karten spielen würde. Mit Blick auf Probleme auf dem Luftwaffenstützpunkt Incirlik in der Türkei dürfe es nicht "business as usual" geben. "Wenn es nicht sofort zu einer Änderung kommt, dann können wir unsere Soldaten dort nicht belassen."

Die Beziehungen zur Türkei sind für die EU besonders wichtig, weil das Land bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise eine entscheidende Rolle spielt. Seit ein Abkommen mit der türkischen Regierung geschlossen wurde, kommen kaum noch Migranten über den Nato-Staat nach Europa. Allerdings belastet das massive Vorgehen der Behörden gegen Oppositionelle und Medienvertreter nach dem Putschversuch vom Juli die Beziehungen. (APA, 4.11.2016)