Mejor Singh fand die Leiche seines 30-jährigen Sohnes.

Foto: Kretschmer

Auf Besucher wirkt Chottian nur wie eine weitere Siedlung im südlichen Punjab, die nach schier endlosen Getreidefeldern wie aus dem Nichts auftaucht: Hunde und Kühe streunen über staubige Lehmpfade, die Häuser werden von unverputzten Ziegelmauern gesäumt. In Chottian jedoch verbirgt sich hinter praktisch jeder Tür ein dunkles Geheimnis. Seit 1990 haben sich 104 Dorfbewohner das Leben genommen, ein weiteres Dutzend gilt als vermisst.

Mejor Singh führt in seinen Hof, wo er mit seiner Frau und zwei Enkelkindern lebt. Der hagere Körper des 63-Jährigen zeichnet sich trotz der weit geschnittenen Kurta deutlich ab, die Sonne hat tiefe Furchen in das dunkle Gesicht gegraben. Der Sikh zeigt auf den verlassenen Nebentrakt seines Hauses. Hier habe er seinen Sohn in den Morgenstunden des 5. November 2013 gefunden, der leblose Körper des 30-Jährigen durch Pestizide vergiftet. "Mein Sohn hat die Last nicht mehr ausgehalten, schon zwei Jahre vor seinem Tod hat er sich immer mehr zurückgezogen", sagt er.

Kaum Hoffnung

Fast umgerechnet dreitausend Euro schuldet die Familie privaten Kreditgebern. Selbst bei guten Ernten reichen die Erträge lediglich, um die horrenden Zinssätze zurückzuzahlen. "Dass wir einmal schuldenfrei sein werden, darauf mache ich mir wenig Hoffnung", sagt Singh.

Wer mit den Bewohnern von Chottian redet, der bekommt fast immer dieselbe Geschichte zu hören. Ihr roter Faden sind die Schulden, die traurige Klimax der Suizid. Einige Familien haben bis zu vier Söhne verloren, oft sind die Großväter die einzig verbliebenen Männer. Chottian ist längst ein Ort der Witwen und Töchter.

Knapp 300.000 Suizide

Schätzungen zufolge haben sich in Indien in den vergangenen 20 Jahren knapp 300.000 Kleinbauern das Leben genommen. In den Statistiken erscheinen vor allem die bitterarmen, vom Baumwollanbau dominierten Regionen in Zentralindien auf, die von Medien als "Selbstmordgürtel" tituliert werden. Dass aber ausgerechnet der Punjab, die Getreidekammer Indiens, womöglich am stärksten betroffen ist, wird von den Behörden bis heute ignoriert.

"Selbst die Lokaljournalisten konnten kaum fassen, was hier vor sich geht", sagt Inderjit Singh Jaijee, ein 87-jähriger Sikh. Mitte der 1980er-Jahre gab er seinen hochdotierten Marketingjob bei einem britischen Konzern auf, um sich für die Anliegen seiner Heimat zu engagieren. Systematisch bereiste er die Kommunen im südlichen Punjab, um die Suizide statistisch zu erfassen. Schnell wurde Jaijee klar, dass die Behörden nur einen verschwindend geringen Bruchteil der Fälle registrieren. Oft wird die wahre Todesursache verschwiegen, denn Suizid stellt in Indien noch immer ein Verbrechen dar. Auch der Staat hat kein Interesse daran, das Scheitern seiner jahrzehntelangen Politik eingestehen zu müssen.

Keine Subventionen für Bauern

Nach der Unabhängigkeit Indiens zählte der Punjab schließlich zu den wohlhabendsten Bundesstaaten Indiens. Ein paradiesisches Stück Erde, das von fünf Flüssen durchzogen wird. 1947 jedoch hat die Staatsgründung Pakistans den Punjab entzweigerissen, und aufgrund der Spannungen mit dem islamischen Atomstaat blieben Industrie und Investoren fern. Zudem hielt die Zentralregierung in Delhi die Preise des angebauten Getreides künstlich niedrig, ohne die Bauern durch Subventionen zu unterstützen. Große Teile der Landbevölkerung mussten Schulden bei privaten Geldgebern aufnehmen, die Zinsen bis zu 30 Prozent verlangen.

Vor allem aber lassen sich im Punjab die negativen Folgen der grünen Revolution beobachten: Monokulturen und exzessiver Gebrauch von Pestiziden haben das Land ausgelaugt, die ineffektive Bewässerung die Grundwasserspiegel absinken lassen. Im Bundesstaat mit der höchsten Getreideproduktion leiden ganze Landstriche an Mangelernährung.

Fast täglich neue Leichen

Nur ein paar Kilometer von Chottian entfernt fließt der Bhakra-Kanal, ein Flusssystem, das während seiner Errichtung in den 1950er-Jahren den Fortschritt in der Region verkörperte. Mittlerweile versammeln sich dort jeden Morgen an einer Schleuse verzweifelte Männer. Sie warten darauf, dass der Fluss ihre vermissten Verwandten anspült. Fast täglich werden hier neue Leichen geborgen. Die Wände des Wachhäuschens quellen über mit Vermisstenanzeigen. Selbsternannte Taucher bieten ihre Bergungsdienste an, ein eigenes Gasthaus wurde für die Suchenden aus der Region eingerichtet. An einer Stelle lauern Hunde auf der Suche nach einem Kadaver. (Fabian Kretschmer aus Chottian, 9.11.2016)