Brüssel – Die EU-Kommission zeigt sich "schwer besorgt" über die jüngsten Entwicklungen in der Türkei. "Es hat ernsthafte Rückschritte im Bereich Meinungsfreiheit im vergangenen Jahr gegeben", heißt es in dem Mittwoch von EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn im EU-Parlament in Brüssel vorgestellten Fortschrittsbericht. Das Vorgehen gegen die oppositionelle prokurdische HDP sei eine "schwerwiegende Sorge".

Die EU-Kommission hält dennoch an den Beitrittsverhandlungen mit Ankara fest. Der Bericht verweist auf die Eröffnung von weiteren Verhandlungskapiteln im November 2015 und im Juni 2016. "Dies beinhaltet auch vorbereitende Arbeiten zu drei anderen Kapiteln und das laufende Update der Screeningberichte in den Schlüsselkapiteln 23 und 24." Beide Seiten hätten zudem Optionen zur Aufwertung der Zollunion geprüft.

Willkür

"Selektive und willkürliche Anwendung des Gesetzes, vor allem zu den Bestimmungen zur nationalen Sicherheit und dem Kampf gegen Terrorismus, haben eine negative Auswirkung auf die Meinungsfreiheit", heißt es in dem EU-Report. "Laufende und neue Kriminalfälle gegen Journalisten, Schriftsteller oder Nutzer sozialer Medien, der Entzug von Akkreditierungen, eine hohe Zahl von Verhaftungen von Journalisten sowie die Schließung zahlreicher Medientitel im Gefolge des Putschversuchs im Juli sind Anlass zu ernsthafter Sorge. Die Versammlungsfreiheit ist weiter übermäßig eingeschränkt, sowohl im Gesetz als auch in der Praxis."

Der Fortschrittsbericht steht ganz im Zeichen des Putschversuches vom 15. Juli, der nach Angaben der EU-Kommission 241 Todesopfer und 2.196 Verletzte gefordert hat. "Die nach dem Putschversuch ergriffenen weitreichenden Maßnahmen haben eine Reihe entscheidender Herausforderungen weiter vertieft, bezüglich des Respekts vor Grundrechten, besonders die Freiheit der Meinungsäußerung und das Recht auf faire Verfahren und Rechtstaatlichkeit", stellt die EU-Kommission fest.

Putsch

"Nach dem Putschversuch erfolgten sehr weitgehende Dienstenthebungen, Entlassungen, Festnahmen und Verhaftungen wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung und Beteiligung an dem Putschversuch. Die Maßnahmen wirkten sich auf das ganze Spektrum der Gesellschaft aus, mit besonderer Wirkung auf die Justiz, Polizei, Gendarmerie, Militär, die Beamtenschaft, lokale Stellen, Hochschulen, Lehrer, Rechtsanwälte, die Medien und die Geschäftswelt. Zahlreiche Institutionen und private Unternehmen wurden geschlossen, ihr Vermögen beschlagnahmt oder an öffentliche Institutionen übertragen."

Angesichts des Umfangs und des kollektiven Charakters der seit Juli ergriffenen Maßnahmen, habe die EU "die Türkei als einen Beitrittskandidaten aufgefordert, die höchsten Standards der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte zu beachten". Die türkische Regierung sei diesbezüglich klare Verpflichtungen eingegangen. "Die Kommission dringt darauf, dass sie vollumfänglich umgesetzt werden, einschließlich durch ein internationales Monitoring der Verhaftungen, Prozesse und Verfahren nach dem Putschversuch."

Zusammenarbeit

Die EU sei zur Zusammenarbeit mit der Türkei bereit. "Aber der Rechtsstaat, Menschenrechte und Grundfreiheiten müssen unter allen Umständen geachtet werden, und das Parlament und alle Kräfte, die in demokratischen Institutionen vertreten sind, müssen in der Lage sein, ihre verfassungsgemäße Rolle voll auszufüllen."

In dem Bericht wird auch auf das Vorgehen gegen die pro-kurdische Opposition im Parlament eingegangen. "Die Annahme, im Mai, eines Gesetzes, das die Aufhebung der Immunität einer großen Zahl von Abgeordneten und in der Folge im November die Festnahme und Inhaftierung mehrerer HDP-Parlamentsabgeordneter, einschließlich der beiden Ko-Vorsitzenden, stellt eine schwerwiegende Sorge dar."

Türkische Überlegungen zur Widereinführung der Todesstrafe wären laut EU-Kommission nicht mit der EU und mit den internationalen Verpflichtungen der Türkei vereinbar. "Bezüglich der neuerlichen Überlegungen zur Einführung eines Gesetzes im Parlament zur Wiedereinführung der Todesstrafe erinnert die EU daran, dass die unmissverständliche Ablehnung der Todesstrafe ein wesentliches Element des EU-Rechtsbestandes und eine zentrale internationale Verpflichtung ist, welche die Türkei eingegangen ist."

In dem EU-Bericht wird auch das Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und Ankara erwähnt. Die Türkei habe bemerkenswerte Anstrengungen zur Unterbringung von 2,7 Millionen Flüchtlingen aus Syrien und dem Irak unternommen. Das Abkommen habe zu einem substanziellen Rückgang von Flüchtlingen und irregulären Migranten aus der Türkei nach Griechenland geführt. Die Türkei habe auch einen "substanziellen Fortschritt" zur Erfüllung der Benchmarks für die Visabefreiung erzielt. Die EU-Kommission habe einen Vorschlag zur Visabefreiung gemacht, "unter dem Verständnis, dass die Türkei die ausstehenden Benchmarks erfüllt". (APA, 9.11.2016)