Die Tiere erlangten in Echtzeit Kontrolle über ihre Beine. Erste klinische Tests könnte es bis Ende des Jahrzehnts geben.

Grafik: Standard/Nature/Jemere Ruby/

Der implantierte Pulsgenerator gibt dekodierte Hirnsignale weiter.

Lausanne/Wien – Ohne Rückenmark geht nichts. Am Beginn jeder Bewegung stehen Signale, die von den motorischen Arealen des Gehirns über Nervenbahnen zum Rückenmark gelangen und von dort schließlich an die jeweiligen Muskeln weitergegeben werden mit dem Befehl: Kontraktion!

Wenn Schädigungen des Rückenmarks diese neuronale Schnellstraße unterbrechen, ist das Ergebnis meist der Kontrollverlust über Bewegungen und Muskelfunktionen. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) erleiden jährlich bis zu 500.000 Menschen solche Verletzungen des Rückenmarks und sind, je nach Schweregrad, von vorübergehenden bis dauerhaften Lähmungen betroffen.

Seit den 1970ern gibt es Versuche, mithilfe elektronischer Implantate unterbrochene Nervenbahnen zu überbrücken. In jüngster Zeit gelang es mehrfach, durch dekodierte Hirnsignale Handprothesen zu steuern. In einem Fall konnte ein Patient sogar seine eigene gelähmte Hand bewegen.

Stimulierender Datentransfer

Nun nutzten Wissenschafter der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne diesen Ansatz erstmals erfolgreich zur Aktivierung der Beinmuskulatur: Sie überbrückten mithilfe eines funkgesteuerten Bypasses das geschädigte Rückenmark von zwei Rhesusaffen. Wie die Forscher um Grégoire Courtine aktuell in "Nature" berichten, konnten die Tiere dadurch unmittelbar ein zuvor gelähmtes Bein bewegen.

Möglich ist das durch ein Echtzeit-Schnittstellensystem aus mehreren Komponenten: Ins Gehirn implantierte sogenannte Mikroelektrodenarrays zeichnen die Signale des für Bewegungen verantwortlichen Motorcortex auf und senden sie an einen Computer. Dort werden die Daten mithilfe eines speziellen Algorithmus dekodiert und an einen implantierten Pulsgenerator geschickt. Dieser wiederum steuert Elektroden, die am Rückenmark unterhalb der Verletzung angebracht sind und die dort vorhandenen Nerven stimulieren, um die vom Gehirn beabsichtigten Muskelbewegungen auszulösen.

Klinische Tests in wenigen Jahren?

Die Affen hätten sofort die Kontrolle über ihr gelähmtes Bein wiedererlangt, sagt Koautor Erwan Bezard: "Physiotherapie und Training waren nicht nötig."

Der britische Neurowissenschafter Andrew Jackson bezeichnet die Studie in einem "Nature"-Kommentar als "großen Fortschritt". Angesichts der rasanten Entwicklung und der Tatsache, dass einige Komponenten bereits zur Forschung am Menschen zugelassen sind, seien klinische Tests bis 2020 denkbar. (dare, 9. 11. 2016)