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Schariaräte sind Männerräte: So sieht es aus, wenn sie in London – hier Mufti Barakatullah, Maulana Abu Sayeed, Suhaib Hasan (v. li.) – über muslimische Ehefälle entscheiden.

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Elham Manea kämpft für universelle Menschenrechte.

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Elham Manea, eine feministische, muslimische Politikwissenschafterin, hat "auch Angst" und will daher umso mehr kämpfen – gegen die weltweite Ausbreitung des Islamismus und für universelle Menschenrechte. Vier Jahre lang hat sie in Großbritannien "Schariagerichte" analysiert. Im STANDARD-Interview fordert sie, dass es für religiöse Minderheiten keine Sonderrechte geben dürfe.

Vor allem Frauen werden durch die Scharia-Räte diskriminiert. Manea warnt dringend vor einem derartigen "Rechtspluralismus", den sie als Ausdruck "falsch verstandener Toleranz" interpretiert. Dadurch sei eine "Zweiklassengesellschaft" entstanden, die muslimische Frauen aufgrund ihrer Religion rechtlich diskriminiere.

Die Etablierung der Scharia sei fester Bestandteil der islamistischen Agenda, sagt Manea, die auch als Sprecherin der internationalen Kampagne für den saudischen Blogger Raif Badawi fungiert. Badawi, wegen "Beleidigung des Islam" unter anderem zu 1000 Stockhieben veurteilt, stehe exemplarisch dafür, "dass viele Menschen in der arabischen und islamischen Welt für die Universalität der Menschenrechte kämpfen".

Besonders großes Hoffnungspotenzial sieht Elham Manea in einem "Kernthema", das die Zukunft der arabischen Welt ändern könnte: die Geschlechterfrage im Islam.

STANDARD: Sie haben für Ihr Buch "Women and Shari'a Law" vier Jahre lang britische Schariagerichte analysiert und auch mit dort aktiven Imamen gesprochen. Welche "Rechtssprüche" gibt es da?

Manea: Bei den Schariaräten geht es um die Verhandlung von familiären Angelegenheiten wie Scheidung, Sorgerecht und Erbschaften. Im Fall der Schiedsgerichte werden zusätzlich Fälle von Ehegewalt und Kindsmissbrauch verhandelt. Bisweilen kommt die sogenannte Kafa'a zur Anwendung, was bedeutet, dass der Vater oder der Vormund das Recht geltend macht, die Ehe seiner Tochter aufzulösen, wenn sie gegen seinen Willen heiratet.

STANDARD: Sie schreiben, die Schariagerichte sind besonders für Frauen von Nachteil. Inwiefern?

Manea: 95 Prozent der behandelten Fälle betreffen Frauen. Durch die Anwendung von Schariagesetz sind sie Unmündige, die vor der Heirat durch den männlichen Vormund und nachher durch den Ehemann kontrolliert werden. Die Rechtsprechung, die auf das 7. bis 10. Jahrhundert zurückgeht, erlaubt Kinder- und Zwangsehen.

STANDARD: Großbritannien hat ein eigenes, elaboriertes Rechtssystem, warum gibt es denn diese islamische Paralleljustiz überhaupt?

STANDARD: Es wurden jahrzehntelang über das politische Spektrum hinweg Fehler gemacht. Eine falsch verstandene Toleranz und Politik des Multikulturalismus führte zu weitreichenden Zugeständnissen in Bezug auf Gruppenrechte von Minderheiten. Zugleich wurden viele staatliche Aufgaben an Nichtregierungsorganisationen abgegeben und damit die Kontrolle darüber verloren.

STANDARD: Welche Konsequenzen hat die Installierung solcher Schariagerichte bzw. so ein System des "Rechtspluralismus"?

Manea: Es wurde faktisch eine Zweiklassengesellschaft eingeführt: Die britische Mehrheit hat Anspruch auf Gleichberechtigung durch den Rechtsschutz des Common Law, muslimische Frauen hingegen werden aufgrund ihrer Religion rechtlich diskriminiert. Das hat die Segregation und Ghettoisierung in städtischen Milieus begünstigt und gravierende Konsequenzen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

STANDARD: Wie viele solcher Schariagerichte gibt es heute in Großbritannien bzw. was konkret muss man sich darunter vorstellen?

Manea: Da sie keinerlei Aufsicht unterliegen, kann man über die genaue Zahl nur mutmaßen. Bei den Schariaräten geht man von etwa 85 aus, im Fall der Schiedsgerichte von sechs bis sieben. Es sind in beiden Fällen Männerräte, die sich als Richter vorstellen und glauben, dass sie göttliches Gesetz anwenden.

STANDARD: Gibt es in anderen europäischen Ländern auch derartige Schariagerichte?

Manea: Überall dort, wo sich islamischer Fundamentalismus manifestiert, muss auch von der informellen Existenz solcher Strukturen ausgegangen werden.

STANDARD: Sie warnten in einem "Zeit"-Interview: "Es gibt in der Schweiz Anzeichen einer zunehmenden Islamisierung." Wo sehen Sie die bzw. steht Ihr Schariabuch damit in einem Zusammenhang?

Manea: Das Muster, das ich in Großbritannien beobachtet habe, zeigt sich zunehmend auch hier: Es fängt damit an, dass muslimische Schüler ihren Lehrerinnen nicht die Hand geben wollen. Dann weigern sie sich, am Musik- und Kunstunterricht teilzunehmen, fordern separate Gebetsräume, Eltern verlangen, dass sieben- und achtjährige Mädchen Kopftuch tragen. Und dann kommt der Ruf nach der Anwendung von Schariagesetz in familiären Angelegenheiten. Das ist ein typisches Anliegen von Islamisten und fester Bestandteil ihrer Agenda.

STANDARD: Was müssen europäische Gesellschaften tun, um diese "zunehmende Islamisierung", von der Sie sprechen, rechtzeitig zu stoppen? Wo ansetzen?

Manea: Zum Wichtigsten gehört: für unsere Rechtsordnung, Werte und gesellschaftlichen Errungenschaften ohne Wenn und Aber einstehen und sie von allen einfordern. Es braucht zudem Maßnahmen für einen europäischen Islam, der nicht durch den Nahen Osten beeinflusst ist. Dazu ist zwingend notwendig, die Ausbildung der Imame und die Finanzierung der Moscheen nicht dem Ausland zu überlassen.

STANDARD: Sehen Sie da auch zu viel Duldsamkeit? Andere Islamkritiker sprechen sogar von "Naivität" europäischer Politiker gegenüber islamistischen Tendenzen.

Manea: Im Umgang mit dem Islam und in der Unterscheidung zum Islamismus herrscht immer noch große Unsicherheit vor. Die Manifestationen des politischen Islams werden aus Angst, der Islamphobie bezichtigt zu werden, ausgeblendet. Man möchte gutmeinend Entgegenkommen signalisieren, was aber meistens das Gegenteil von gut ist.

STANDARD: Welche Rolle spielt das Genderthema bzw. welche Rolle spielen Frauen im Zusammenhang mit islamistischer Radikalisierung? Werden muslimische Frauen politisch instrumentalisiert? Ein paar der Konfliktthemen – etwa das Kopftuch für minderjährige Mädchen, die Vollverschleierung mit Burka und Nikab in europäischen Ländern, Schwimmverbote für Mädchen etc. – werden ja buchstäblich über den weiblichen Körper abgehandelt.

Manea: Grundlegend für sämtliche islamistische Strömungen ist die Beherrschung des Verhaltens und des Körpers der muslimischen Frau. Sie wird in zweierlei Hinsicht instrumentalisiert: zum einen durch die religiösen Fundamentalisten, welche über die Kontrolle der Frau eine gesellschaftliche Kontrolle anstreben. Zum anderen ironischerweise auch durch rechtskonservative Kreise, die sich noch nie für die Emanzipation der Frau starkgemacht haben. Plötzlich wird für sie die Gleichberechtigung das Argument für ein Burkaverbot.

STANDARD: Wie soll denn der demokratische, säkulare Rechtsstaat mit solchen Themen, die unter dem Mantel der "Religionsfreiheit" verlangt werden, umgehen?

Manea: Wir müssen daran festhalten, dass alle vor dem Gesetz gleichbehandelt werden. Denn Sonderrechte für religiöse Minderheiten schützen diese nicht. Keine Sonderrechte für Muslime.

STANDARD: Eines der bekanntesten Beispiele für Schariajustiz betrifft Raif Badawi. Sie sind die Sprecherin der internationalen Kampagne für den saudischen Blogger. Er wurde wegen "Beleidigung des Islam" zu zehn Jahren Gefängnis und 1000 Stockhieben verurteilt. Welche Bedeutung hat sein Fall im Zusammenhang mit der Debatte um den Islam und seine juristischen und politischen Vorstellungen?

Manea: Raif Badawi steht exemplarisch dafür, dass viele Menschen in der arabischen und islamischen Welt für die Universalität der Menschenrechte kämpfen. Autoritäre Regimes wie in Saudi-Arabien und im Iran benutzen Religion als Vorwand, um ihre Herrschaft zu legitimieren und Kritiker mundtot zu machen.

STANDARD: "Auch ich habe Angst. Umso mehr müssen wir kämpfen", sagten Sie einmal. Wovor haben Sie, die feministische, muslimische Politikwissenschafterin Angst bzw. wogegen wollen Sie kämpfen?

Manea: Ich bin zutiefst beunruhigt, wie sich der Islamismus weltweit verbreitet und schleichend auch in Europa festsetzt und dabei mangels einer ernsthaften politischen Reaktion dem Rechtspopulismus Auftrieb gibt.

STANDARD: Sie fordern daher eine "grundlegende Reform des Islam". Wie müsste die aussehen?

Manea: Ein humanistischer Islam anerkennt, dass alle Religionen Veränderungen unterworfen sind. Menschen haben sich die Religionen angeeignet und sie umgewandelt, und alle Religionen müssen oder mussten reformiert werden – manche mehr als andere. Damit verbunden ist die Möglichkeit, mich mit den "verbotenen Bereichen des Denkens" zu beschäftigen. Über die menschliche und historische Natur religiöser Schriften zu sprechen ist beispielsweise ein solcher verbotener Denkbereich. Ein humanistischer Islam erhebt im Gegensatz zur Weltanschauung der Islamisten nicht den Anspruch, die einzig wahre Manifestation von irgendetwas zu sein. Er beruht auf den Grundsätzen von Wahlfreiheit und Rationalität. Und ein humanistischer Islam hat mit einem Kernthema zu tun, das, wenn es ernsthaft angegangen wird, meiner Ansicht nach die Zukunft der arabischen Welt ändern könnte: die Geschlechterfrage im Islam. (Lisa Nimmervoll, 13.11.2016)