"Ich kann getröstet nicht leben", schrieb Ilse Aichinger 1962 in ihren Aufzeichnungen. Für das ganze Jahr benötigte sie sechs Zeilen, für die Jahre zwischen 1950 und 1985 keine fünfzig Seiten. Das große Werk war ihre Sache nicht, ihre Erfahrungen passten besser in kurze Erzählungen, in Notate, auch wenn ihr literarischer Ruhm viel mit einem Roman zu tun hat, mit dem sie 1948 auf sich aufmerksam machte: "Die größere Hoffnung", die Geschichte einer jüdischen Schülerin, die ein Visum braucht, um mit ihrer Mutter zur Freiheitsstatue ausreisen zu dürfen. Eine Hoffnung, die sich nicht erfüllen sollte, "weil niemand für mich bürgt". Dabei gibt es "für jeden Eisschrank eine Garantie", wie Aichinger sarkastisch schrieb. Aber als junge Jüdin war man die längste Zeit ihres damals jungen Leben eben vogelfrei, ausgeliefert, ohne rechtliche Absicherung.
Ilse Aichingers Untröstlichkeit, der Umstand, dass sie mehrfach betont hat, niemals gefragt worden zu sein, ob sie dieses Leben leben möchte, das für sie 1921 in Wien begann, dieser Einspruch hat etwas Prinzipielles, rührt aber zweifellos aus den Erlebnissen während der Nazizeit her. Immer wieder hat sie eindringlich Momente ihrer Kindheit beschworen: das Glück des Beerenlesens in Oberösterreich, in einem Schlag, der "heute längst zugewachsen" sein muss. "Es sind dann viele Jahre gekommen, in denen es kein Beerensuchen mehr gab, keine gute Stuben und keine Hügel mehr." Das waren die Jahre, in denen sie mit ihrer Mutter in Wien ein prekäres Leben führte, einquartiert bei einer feindseligen Frau, in Sichtweite der Gestapo, getrennt von ihrer Zwillingsschwester, die mit einem der "Kindertransporte" nach England gekommen war, getrennt von der geliebten Großmutter und den Tanten, die nach Minsk und in den Tod deportiert worden waren.
Das Bild dieser Transporte in zwei Richtungen hat Ilse Aichinger zeitlebens begleitet, und doch hat sie gegen diese Verdüsterung die Erinnerung an den "Geruch der Beeren" nicht aufgegeben: "Manchmal habe ich die Hoffnung, dass er auch diejenigen zuletzt umgab, die diese Nacht nicht überlebt haben." Die größere Hoffnung war für Ilse Aichinger nur als ein poetisches Bild denkbar, die warme Geborgenheit in einer der Kannen, in der die Beeren gesammelt wurden.
"Trümmerliteratur"
Bei den Texten, die bald nach dem Jahr 1945 in deutscher Sprache erschienen, spricht man manchmal von "Trümmerliteratur". Der Begriff ist hilfreich, um die besondere Qualität dessen zu ermessen, was Ilse Aichinger, ermutigt von dem damals in Wien allgegenwärtigen Hans Weigel, sich getraut hat: Aus den Ruinen einer entwürdigten Sprache errichtete sie fragile Konstruktionen wie die "Spiegelgeschichte", für die sie 1949 den Preis der Gruppe 47 erhielt. Eine Lebensgeschichte in der allergedrängtesten Form, und noch dazu in die falsche Richtung, aus dem Sarg heraus noch einmal alles durchgehend, was unweigerlich in die dunkle Erde führt: ein Frauenschicksal, eine Abtreibung, ein Blick in einen "blinden Spiegel".
Das war ein anderer Ton als die Rehabilitation des Erzählens, die sich bald darauf in den Werken der nachmaligen Großschriftsteller Günter Grass und Martin Walser vollzog, aber auch ein anderer als in den theoretisch inspirierten Avantgarden der Nachkriegszeit wie dem Nouveau Roman. Ilse Aichingers Sprache entzog sich in eine "Unfestigkeit", wie man das mit Blick auf eine Kafka-Stelle nennen könnte, von der sie einmal gestand, dass sie ihr durch Mark und Bein gegangen war. Jemand jausnet im Grünen, und Kafka kann nur staunen über die "Festigkeit, mit der die Menschen das Leben zu tragen wissen".
Ilse Aichinger nahm dieses Leben gleichwohl an, sie hatte auch ein bürgerliches, mit bedeutsamen Stationen wie der Gründung der Hochschule für Gestaltung in Ulm, an der sie sich 1951 auf Einladung von Inge Scholl beteiligte; mit einer Familie (1951 heiratete sie den Schriftsteller Günther Eich, der Ehe entstammen zwei Kinder, Clemens und Mirjam), mit Reisen und Preisen. 1972 starb Günther Eich. 1988 kehrte sie, nach vielen Jahren in Deutschland, zuletzt in Frankfurt/Main, nach Wien zurück. Hier begann sie wieder intensiver zu schreiben, nachdem 1991 eine von Richard Reichensperger herausgegebene, mittlerweile schon lange vergriffene Werkausgabe erschienen war. Film und Verhängnis. "Blitzlichter auf ein Leben" und "Unglaubwürdige Reisen" heißen die beiden Bücher mit kleinen, vielfach autobiografischen, häufig von Kinoerlebnissen inspirierten Texten, die bis 2004 im STANDARD erschienen, bevor sich die Zusammenarbeit in einem Streit über den Literaturnobelpreis für Elfriede Jelinek zerschlug.
Enorme Spanne ihres Lebens
In ihrem Journal des Verschwindens, das sie auf 2Film und Verhängnis2 folgen ließ, bekannte Aichinger noch einmal, dass ihr "vor allem an der Flüchtigkeit liegt", dass sie die "eigene Existenz als Überrumpelung begriffen habe", der sie sich stellte, indem sie sich auf die Spur von "unspektakulären Genauigkeiten" begab. Die enorme Spanne, die Ilse Aichingers Leben umfasst, wird an zwei Sätzen deutlich, an die sie sich erinnern kann, sie gehört zu haben. "Einmal rief jemand: Der Justizpalast brennt." Und einmal hörte sie eine ältere Frau zu einer anderen sagen: "Es soll jetzt Tonfilme geben."
Solche Momente ließen sie nicht los, ein langes, langes Leben nicht, von dem sie 1973 schrieb, es ginge darin vor allem darum, "die Unfähigkeit zu leben bis zum Ende auszuspielen". Uns, die wir sie lesen, die wir sie vielleicht auch in einem Kino noch angetroffen haben, ihre zerbrechliche Erscheinung wahrgenommen haben, uns war es ein Trost, dass dieses Ende so spät kam. Vielleicht hat sie ja selber noch etwas von diesem Trost empfunden, trotz so vieler großer Verluste in ihrem Leben. Am Freitag ist Ilse Aichinger nach Angaben ihrer Tochter Mirjam Eich wenige Tage nach ihrem 95. Geburtstag in Wien gestorben. (Bert Rebhandl, 11.11.2016)