Katja Schechtner: "Auf Basis der vielen Daten über Menschen und Infrastrukturen ist auch der Sprung zu einer Stadtsteuerung, die heute noch wie Science-Fiction klingt, nicht weit."

Foto: Heribert Corn

Noch vor kurzem war urbane Infrastruktur – von der Wasserversorgung bis zur Verkehrssteuerung, von der Stadtbeleuchtung bis zur Energieversorgung – ein bisschen langweilig, meist versteckt im Untergrund und nur dann von Interesse, wenn sie versagt hat. Das ändert sich gerade rasant, denn nun stehen der Mensch, seine Beziehung zu anderen Menschen und zu einer viel präziser kontrollierbaren Infrastruktur im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.

Seit wir auf eine immer dichtere Wolke an Daten zurückgreifen können, die unsichtbar über unseren Köpfen schwebt, können wir unsere Städte durch eine neue Linse betrachten und verstehen lernen: Digitale Informations- und Steuerungsnetzwerke verknüpfen Informationen über unsere physische Umwelt mit Informationen darüber, wie wir als Menschen unsere Stadt nutzen – oder gern nutzen würden – und reagieren darauf. Der Rhythmus der Stadt wird sichtbar, und die neue Herausforderung ist, eine Antwort auf diese Frage zu finden: Wie wollen wir dieses Wissen nutzen?

Denn die Welle an digitaler Information verändert unser Alltagserleben bereits jetzt: Wir haben von unserem Bett aus Zugang zu vielen Dingen, für die wir früher "in die Stadt" gehen mussten. Dadurch verändert sich unsere Wahrnehmung von Städten, was wir von ihnen erwarten und wie wir uns durch den öffentlichen Raum bewegen: Städte werden vor unserem inneren Auge kleiner und einfacher navigierbar. Wir können vorausplanen, wann wir wo was erleben werden, wir fühlen uns sicherer, weil besser informiert darüber, was passieren wird: z. B. wann die U-Bahn einfahren wird oder welches Restaurant gerade offen hat und unseren Geschmack trifft.

Vielleicht erleben wir dadurch mehr, weil wir uns trauen, abseits der üblichen Wege Neues zu entdecken? Die spannendere Route nehmen, nicht unbedingt die kürzeste? Gleichzeitig wird unsere Vorstellung von Stadt aber auch größer und vielschichtiger, denn wir können auf unseren Bildschirmen so viel sehen und erleben, das oft anders und fremd ist, schwierig zu verstehen und aus dem wir auswählen müssen. Wie William J. Mitchell, einer der bedeutendsten Visionäre zum Thema Stadt, Technologie und digitale Revolution 1995 in seinem Buch "City of Bits: Space, Place, and the Infobahn" (MIT Press, 1995) vorhergesagt hat, sind wir in das Zeitalter der "elektronisch erweiterten Körper" eingetreten, die wir nun gleichzeitig durch die materielle und digitale Umwelt navigieren müssen.

Keine einfache Entscheidung

Für die Menschen in der Stadt der Zukunft bedeutet das: Einerseits können wir viel mehr, viel schneller und viel präziser wissen, was in unseren Städten gerade passiert, und langfristige Entwicklungen besser vorhersagen, andererseits können wir auch direkter, oft sogar in Echtzeit, steuernd eingreifen. Aber es ist heute nicht einfach zu entscheiden, ob und wie wir das in Zukunft machen sollen.

Im Verkehrssystem ist dieses Dilemma anschaulich: Wir können schon heute eine grüne Welle für eine bevorzugte Gruppe schalten und andere bremsen. In einer Welt, die sich auf digitale Karten verlässt, könnten wir noch weiter gehen und auf manchen Navigationsgeräten einige Straßen gar nicht als Route einblenden, obwohl es dort schneller voranginge. Ist das gerechtfertigt? Wenn wir diese Routen nicht anzeigen, um sie so für Krankenwagen und Feuerwehr frei zu halten, ist es dann "richtig"? Aus der Perspektive der Gemeinschaft wahrscheinlich ja, aber was ist, wenn es so weit ginge, dass sich reichere Nachbarn von der Anzeige im Datensystem freikaufen könnten und damit einen Anteil des Verkehrs in ärmere Straßenzüge verdrängen würden? Wollen wir in so einer Stadt wirklich leben?

Auf Basis der vielen Daten über Menschen und Infrastrukturen ist auch der Sprung zu einer Stadtsteuerung, die heute noch wie Science-Fiction klingt, nicht weit: Was wäre, wenn wir etwa die Geschwindigkeit, mit der Menschen gehen, unbewusst beeinflussen könnten? Vielleicht, indem wir die Entlüftungsanlagen, die wir ohnehin in Flughäfen und Bahnhöfen haben, in einem variablen Rhythmus brummen lassen, dem sich unser Körper automatisch anpasst? Oder indem wir Lichtfarben und Helligkeiten auf Bahnsteigen so verändern, dass sich bestimmte Gruppen ganz unbewusst angezogen oder abgestoßen fühlen?

Wenn wir damit sorgen, dass mehr Menschen den öffentlichen Verkehr nutzen können, weil sie sich schneller und besser verteilen und so auch mehr Platz haben, unterstützen dies wahrscheinlich die meisten. Aber natürlich könnte diese Forschung auch für wesentlich düstere Zukunftsvisionen eingesetzt werden.

Zu viele fette Burger

Eine ähnliche Technologieentwicklung passiert auch in vielen anderen Stadtinfrastrukturen: Wissenschafter können über verteilte Sensorennetzwerke das Abwasser auf Viren und Bakterienbelastung und Nährstoffanteil untersuchen: einerseits, um bessere Abwasserkläranlagen zu entwickeln, aber man könnte natürlich auch den Gesundheitsbehörden oder Versicherungen melden, in welchem Grätzel zu viele Bürger fette Burger essen und Antidepressiva oder Drogen im Abwasser schwimmen.

In den ersten Jahren der Begeisterung für die Möglichkeiten des Einsatzes von Technologie in Städten, den Jahren des "Smart City"-Hypes, haben globale Technologiekonzerne ganze Armeen von Sensorenentwicklern und Softwareprogrammieren eingesetzt, um sie die Städte der Zukunft planen zu lassen. Mit diesen "digitalen Stadtmaschinen" sind sie aber meist spektakulär gescheitert, z. B. in Songdo in Südkorea. Weder wollte die Technologie so richtig funktionieren, noch wollten viele Menschen dort leben. Gleichzeitig ist es aber unbestreitbar, dass es viele Möglichkeiten gibt, Technologie so einzusetzen, dass wir besser als heute in den Städten der Zukunft leben werden können.

Die Voraussetzung, dass das gelingen kann, ist allerdings, dass Bürger, Bürgerinnen und Stadtführung, aber auch andere Experten und Expertinnen aus Bereichen wie Softwareprogrammierung und Architektur zusammenarbeiten und eine gemeinsame Sprache finden – und ja, manchmal wird diese Sprache ein Computercode sein. (Katja Schechtner, 3.12.2016)