27 Jahre nach der Samtenen Revolution in der ehemaligen Tschechoslowakei wünscht sich Pavel Bělobrádek mehr Gehör auf EU-Ebene.

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STANDARD: Donald Trump hat im US-Präsidentschaftswahlkampf angedeutet, die europäischen Nato-Partner mehr in die Pflicht nehmen zu wollen. Viele sehen nun die Nato-Beistandsgarantie in Gefahr. Ein Sicherheitsrisiko auch für Tschechien?

Bělobrádek: Ich halte die Forderung der USA für völlig legitim. Donald Trump hat das vielleicht aggressiver formuliert, als wir es gewohnt sind, aber schon die Obama-Administration hat auf das Problem hingewiesen. Die meisten europäischen Nato-Mitglieder erfüllen ihre Pflicht nicht, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung auszugeben. Meine Christdemokratische Partei fordert das, doch in der Koalition (mit den Sozialdemokraten und der Partei Ano, Anm.) konnten wir uns nur auf 1,4 Prozent einigen. Die Zeiten, in denen wir weitgehend sorgenfrei gelebt haben, sind aber vorbei. Wir dürfen keine Trittbrettfahrer sein.

STANDARD: Sie haben neulich über vermehrte Geheimdienstaktivitäten Russlands gesprochen. Können Sie das näher erläutern?

Bělobrádek: Öffentliche tschechische Geheimdienstberichte beschreiben eine erhöhte Aktivität vor allem chinesischer und russischer Agenten sowie verstärkte Versuche einer Beeinflussung des öffentlichen Diskurses. Das sollte man nicht unterschätzen, denn in der heutigen Zeit bedeutet Cyberkrieg nicht nur, Daten zu hacken oder irgendein Ziel zu zerstören. Es geht auch um das Verbreiten von Verschwörungstheorien und darum, die Autorität von Institutionen und Politikern zu untergraben. Tschechien ist da offenbar Ziel einer massiven Kampagne.

STANDARD: Auch mit Bezug auf die Flüchtlingskrise ist häufig vom absichtlichen Schüren von Angst die Rede. Stimmen Sie dem zu?

Bělobrádek: Natürlich wird auch dieses Thema zum Angriff auf den Zusammenhalt in der EU missbraucht. Die Kritik zielt oft darauf ab, dass die EU versagt. In der Debatte aber fehlt meist die Verantwortlichkeit der Nationalstaaten.

STANDARD: Die Visegrád-Gruppe, also Tschechien, die Slowakei, Polen und Ungarn, tritt in der Flüchtlingspolitik häufig gemeinsam auf. Dabei hat sie sich den Ruf erworben, nicht wirklich solidarisch zu sein. Wie sehen Sie das?

Bělobrádek: Aus meiner Sicht ist das sehr ungerecht. Wir geben viel Geld für Hilfsmaßnahmen aus, wir helfen beim Schutz der Grenzen, schicken Polizisten und Ausrüstung. Wir helfen Menschen in Flüchtlingslagern, sodass sie erst gar nicht nach Europa kommen müssen, sondern in der Nähe ihrer Heimat bleiben können. Wenn es früher oder später gelingt, den IS zu besiegen, dann müssen Länder wie Syrien oder der Irak ja wieder aufgebaut werden. Die Bevölkerung dauerhaft nach Europa zu transferieren ist nicht die richtige Lösung.

STANDARD: Im Zusammenhang mit der Abstimmung über EU-Flüchtlingsquoten haben Sie einmal die Formulierung "Über uns ohne uns" verwendet. In Tschechien verweist das klar auf das Münchner Abkommen 1938, also die Zerschlagung der Tschechoslowakei auf Betreiben Hitlerdeutschlands. Ist dieser Vergleich bei einem demokratischen Vorgang angebracht?

Bělobrádek: Ich habe da nicht über die Abstimmung gesprochen, sondern über die Art des Umgangs mit uns. Auf europäischer Ebene habe ich schon oft gehört: Wir machen das so und so, und ihr macht entweder mit, oder wir machen es ohne euch. Und: Wir werden darüber mit euch nicht diskutieren, denn wir haben recht. Das ist eine gewisse moralische Arroganz. Es ging also um den Stil. Die Abstimmung selbst ist eine demokratische Prozedur, die wir akzeptieren. Das ist gar kein Problem.

STANDARD: Was sind konkret Ihre Vorbehalte gegen die Quoten?

Bělobrádek: Wenn ein Flüchtling überall in Europa die gleichen Unterstützungszahlungen wie in Deutschland bekommt, dann hätte er in der Slowakei oder in Bulgarien mehr Geld als ein Erwerbstätiger. Der soziale Friede wäre am Ende. Wenn die Beträge aber unterschiedlich sind, wie halten wir dann die Leute in jenen Ländern, wo sie viel weniger bekommen als in Deutschland? Auf diese konkrete Frage konnte mir niemand eine Antwort geben. Aber wenn man sie stellt, dann wird das als Ausdruck mangelnder Solidarität gesehen. Für mich ist das schockierend. Tschechien ist aber bereit, 1.500 Menschen auf freiwilliger Basis aufzunehmen.

STANDARD: Was wären Ihre Rezepte zur Bewältigung der Krise?

Bělobrádek: Zunächst müssen wir bei der Stabilisierung des Mittleren Ostens helfen. Zum Beispiel dem Libanon, wo es enorm viele Flüchtlinge gibt. Das kann man mit Europa überhaupt nicht vergleichen. Zweitens müssen wir den Schengen-Raum schützen. Und drittens müssen wir jene zurückschicken, die kein Recht auf Asyl haben. Das wird nicht schön sein, aber es ist nötig, um ein klares Signal zu senden.

STANDARD: Wie sehen Sie den derzeitigen Siegeszug von Populisten in vielen Ländern?

Bělobrádek: Informationen werden heute oft nur noch clipartig wahrgenommen. Deutschland ist da mit Kanzlerin Angela Merkel im Vorteil. Sie ist in der Lage, in einigen wenigen Sätzen ein Problem zu skizzieren, zu sagen, was sie darüber denkt, und eine Lösung vorzuschlagen. Viele solche Persönlichkeiten gibt es in der euroatlantischen Politik aber nicht. In der politischen Szene fehlen Einfachheit und Verständlichkeit. Gerade das hilft Populisten, die einfache, aber nicht durchdachte Lösungen anbieten. (Gerald Schubert, 18.11.2016)