"Die Frage des Verzeihens stellt sich genau an der Grenze da, wo wirklich schwere oder schwerste Schuld vorliegt", sagt Svenja Flaßpöhler.

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STANDARD: Sie haben ein Buch über das "Verzeihen. Vom Umgang mit Schuld" (DVA 2016) geschrieben. Warum sollte man einen "moralischen Schuldenschnitt" machen? Was bringt er?

Svenja Flaßpöhler: Man sollte überhaupt nicht verzeihen. Verzeihen kann nie eine normative Forderung sein, es ist auch kein zweckrationales Instrument. Man kann nicht sagen, ich möchte mein Seelenheil wiederherstellen und bediene mich dazu des Verzeihens, ich ziehe einen Schlussstrich, vollziehe einen moralischen Schuldenschnitt. Das funktioniert nicht. Dem Verzeihen wohnt immer auch etwas Unverfügbares inne. Man kann es sich nicht vornehmen, man kann es auch nicht lernen wie eine Sportübung, es ist vielleicht eher mit der Kunst vergleichbar. Man braucht bestimmte Bedingungen, Materialien, aber ob das Gemälde gelingt, ist etwas anderes. Es muss auch glücken. Verzeihen ereignet sich immer auch ein Stück weit, aber wenn es gelingt, diesen Verzicht auf Vergeltung – das meint ja das Wort verzeihen – zu vollziehen, dann bedeutet das durchaus eine, um es mit Hannah Arendt zu sagen, Neugeburt. Nicht nur des Täters, sondern auch des Opfers.

STANDARD: Gibt es unverzeihliche Taten, oder lässt sich alles verzeihen? Arendt hat das mit Blick auf den Holocaust ja verneint und die Hinrichtung Adolf Eichmanns befürwortet.

Flaßpöhler: Hannah Arendt hat – wie auch Vladimir Jankélévitch, beide jüdischstämmige Philosophen – ganz klar eine Grenze des Verzeihbaren gezogen, und die Grenze ist das Böse, die Shoah. Spontan leuchtet das ein. Das Böse ist nicht verzeihbar. Aber es gibt einen Satz von Jacques Derrida, der besagt: Nur das Unverzeihbare ruft nach Verzeihung. Gerade das, von dem wir sagen, das kann nie und nimmer verziehen werden, das ist so ungeheuerlich, ruft nach Verzeihung. Das ist unsere Herausforderung: Die Frage des Verzeihens stellt sich genau an der Grenze, da, wo wirklich schwere oder schwerste Schuld vorliegt.

STANDARD: Hat Verzeihen Voraussetzungen?

Flaßpöhler: Ja, ich versuche sie im Buch zu benennen, indem ich drei große Fragen stelle: Heißt verzeihen verstehen? Heißt verzeihen lieben? Heißt verzeihen vergessen? Diese drei Säulen müssen vorhanden sein, damit sich das Verzeihen ereignen kann.

STANDARD: Was bedeutet denn zum Beispiel das Verstehen für das Verzeihen?

Flaßpöhler: Ich habe mit einer Mutter gesprochen, die beim Amoklauf in Winnenden mit 15 Toten ihre Tochter verloren hat. Zunächst konnte sie nicht einmal den Namen des Täters aussprechen, das war wie ein Verbot, sie war stumm und verbittert, wie versteinert. Das hat sich mit der Zeit verändert. Sie hat versucht, zu verstehen, was diesen Menschen zu seiner Tat getrieben hat. Dieses Verstehen hat sie auf den Weg des Verzeihens geführt. Sie hat es in einem Bild ausgedrückt: Das ist so, wie wenn Sie beim Wandern eine Baumgrenze überschreiten und auf einmal das Gefühl haben, Sie können atmen, Sie haben einen Überblick, Sie sehen wieder eine Zukunft vor sich. Verstehen heißt aber nicht zwangsläufig rechtfertigen – gar entschuldigen. Es gibt auch eine Grenze des Verstehbaren. Würden wir durch das Verstehen sämtliche Schuld vom Täter nehmen, dann gäbe es auch nichts mehr zu verzeihen. Das Verzeihen setzt Schuld voraus.

STANDARD: Welchen Zusammenhang gibt es zwischen Verzeihen und Lieben?

Flaßpöhler: Wir alle kennen das, man liebt blind, man entschuldigt alles beim anderen – aus Liebe. Hannah Arendt macht da eine sehr schöne gedankliche Wendung und sagt: Nein, die Liebe macht nicht blind, sie macht sehend. Und zwar dahingehend, dass wir, wenn wir den anderen mit einem liebenden Blick betrachten, erkennen können, dass er nicht aufgeht in seiner Tat, dass seine Tat sozusagen von ihm ablösbar ist. Vereinfacht gesagt: Ein Mensch ist besser als seine Tat. Er ist nicht diese Tat, und dann gelingt es uns, zwischen den Täter und die Schuld einen Spalt einzuführen und so gleichsam die Schuld abzulösen.

STANDARD: Was ist mit dem Vergessen?

Flaßpöhler: Friedrich Nietzsche spricht von einer sehr gesunden Tabula rasa des Bewusstseins und davon, dass wir die Türen des Bewusstseins auch zeitweise schließen müssen. Er preist die Vergesslichkeit als Seelenhygiene. Wer alles ständig wiederkäut und erinnert, der kommt nie mit einer Sache zu Ende, wird nichts richtig los. Das hat sehr viel für sich, aber: Es ist schon die Frage, wie nachhaltig diese Vergesslichkeit ist. Was ist, wenn das, was vergessen wird, so stark weiterrumort, dass es wiederkehrt. Der französische Philosoph Paul Ricoeur hat deshalb gesagt: Um wirklich tief vergessen zu können, müssen wir uns zunächst erinnern. Wir müssen zuerst das Trauma und den Schmerz durcharbeiten, um dann zu einem tiefen Vergessen zu kommen. Das meint keine Amnestie, sondern: Das belastende Ereignis nimmt im Raum des Psychischen eine andere Bedeutung ein.

STANDARD: Was ist der Unterschied zwischen Verzeihen und Vergeben, den Sie machen?

Flaßpöhler: Im Vergeben steckt die Gabe, im Verzeihen der Verzicht – der Verzicht auf Vergeltung. Auch gehört das "Vergeben" in den religiösen Kontext, wo man zuerst Reue bekunden, sich zu den Sünden bekennen muss, um die Absolution zu erhalten. Genau das ist beim weltlichen "Verzeihen" nicht der Fall. Das Verzeihen durchbricht im Idealfall die Tauschwertlogik von Gabe und Gegengabe. Man erwartet nichts, ist aber auch nicht gleichgültig, ein schwieriger Balanceakt. Auch lässt sich bei Verzeihensakten zwischen Menschen ja oft eine umgekehrte Reihenfolge beoachten: Indem ein Mensch einem anderen verzeiht – und damit meine ich gar nicht den Satz "Ich verzeihe dir", sondern ein Unterlassen im Alltag, man bezichtigt den anderen nicht länger, sondern lässt es gut sein -, wird der Täter gleichsam offen und weich, plötzlich sieht er, was er da angerichtet hat. Er kann sich dazu bekennen, gar um Verzeihung bitten – aber es ist nicht nötig. Das verschafft dem Opfer natürlich auch eine gewisse Unabhängigkeit.

STANDARD: Wer steht/stand bei Ihnen in der Schuld, dass sie auf dieses Thema kamen?

Flaßpöhler: Meine Mutter hat die Familie verlassen, als ich 14 war, meine Schwester acht. Ich bin, weil sie sich schon von ihrem ersten Mann, meinem Vater, getrennt hatte, bei meinem Stiefvater groß geworden. Sie hat den Kontakt zu uns Kindern komplett abgebrochen, um eine neue Familie zu gründen. Das war für mich natürlich schwer.

STANDARD: Haben Sie ihr verziehen?

Flaßpöhler: Das würde ich nie so sagen. Verzeihen ist ein Weg, ein unendlicher Prozess. Es muss sich jeden Tag aufs Neue zeigen. So wie die Liebe.
(Lisa Nimmervoll, 19.11.2016)