West Side Story: Wie ein vor Anker gegangenes Segelschiff schiebt sich das Anfang 2016 eröffnete VIA 57 West in die Skyline von NYC.

Foto: BIG

Noch jung, aber schon ganz oben: Bjarke Ingels.

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Ingels Entwurf für den Wolkenkratzer WTC2 am Ground Zero.

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Wenn jemand weiß, wie ein Hochhaus aussieht, dann sind das mit Sicherheit die New Yorker. Sicher, stilistisch gab es immer Ausreißer, aber das Prinzip ist dasselbe: Zur Mitte des Straßenblocks hin so viel Bauvolumen aufstapeln, wie es das bewährte New Yorker Baugesetz erlaubt. Ganz klar: In Sachen Wolkenkratzer geht es in der Regel sehr vertikal zu. Doch das, was da den Straßenblock am Hudson River ausfüllt, dürfte einigen New Yorkern ein "What the-?" entlockt haben.

Zu zwei Seiten eine glatte Straßenfront, die sich zum Eck hin von beiden Seiten auf 142 Meter Höhe aufschwingt, und zum Flussufer, dort wo Developer sich für gewöhnlich die begehrte Aussicht stapelweise zu Immobiliengold verwandeln, ist es gerade mal zwei Stockwerke hoch. Von oben wiederum ähnelt es einem geblähten Segel, durch dessen Mitte man einen Amboss hat fallen lassen, und über die Frage, was an diesem Gebäude eigentlich Dach und was Fassade ist, kann man sehr lange nachdenken.

Das Bauwerk nennt sich VIA57West, stammt vom dänischen Architekten Bjarke Ingels und wurde gerade in Frankfurt mit dem prestigeträchtigen Internationalen Hochhaus-Preis ausgezeichnet. Wenn man Innovation als Kriterium heranzieht, übertrifft es seine Konkurrenten in der Tat bei weitem. Dabei ist die Idee ganz einfach: Eine europäische Blockrandbebauung, gekreuzt mit einem New Yorker Hochhaus, dann Richtung Ufer gedreht. Mit dem Ergebnis: ein Stück Hudson-Panorama für alle, nicht nur für die, die es sich leisten können. Ein Stück dänische Sozialdemokratie im monetären Manhattan.

Aura des großäugigen Idealisten

Wer ist dieser Bjarke Ingels, der hier transatlantische Fusionsarchitektur betreibt? Mit 42 ist der Däne in Architektenjahren zwar eine Welpe, doch spielt er schon in der ersten Liga und wirkt dabei wie ein Student, der zufällig auf eine Party von Stararchitekten geraten ist. Nach Mitarbeit bei Rem Koolhaas gründete er 2001 in Kopenhagen sein Büro PLOT, das er 2005 in BIG (Bjarke Ingels Group) umbenannte.

Mit großen Dimensionen scheint er wahrlich keine Probleme zu haben. Er ähnelt darin seinem Lehrmeister, doch wo bei Rem Koolhaas' Bauten immer ein von illusionslosem Realismus durchwirkter Kommentar zur Gesamtgegenwart mitschwingt, der sagt: "So sieht es eben nun mal aus auf der Welt, Leute!", umstrahlt Bjarke Ingels die Aura des großäugigen Idealisten, der sagt: "Es könnte aber auch ganz anders aussehen, und es geht ganz leicht."

Die Idee der Fusion von ungewöhnlichen Komponenten in großem Maßstab zieht sich durch sein Werk: Sein Wohnbau "Mountain Dwelling" verbindet Terrassenwohnungen mit einem darunterliegenden Parkhaus zu einem popartbunten Drive-in-Gebirge. Das Dach seiner Müllverbrennungsanlage im dänischen Flachland wird auch als Skipiste fungieren. Und sein 8 House, der größte private Wohnbau aller Zeiten in Dänemark, nimmt mit seiner Form des räumlich verzerrten Superblocks die Idee für das New Yorker Hochhaus schon vorweg.

Auf Instagram unterwegs

Neben diesen Spielen mit dem Konzept beherrscht Ingels auch einen der wichtigsten Akkorde der heutigen Architekturklaviatur perfekt, nämlich die mediale Oberfläche. Seine Bauten sind bei aller geometrischen Komplexität verführerisch fotogen. Sein schwungvoll verschachtelter Londoner Serpentine Pavillon war im Sommer 2016 einer der populärsten in der langen Geschichte dieser illustren Reihe.

Er sah aus allen Blickwinkeln gut aus und fand sich folgerichtig hunderttausendfach auf Instagram-Fotos wieder. Selbstverständlich ist Bjarke Ingels auch selbst dort unterwegs und postet Baustellenfotos ebenso wie Urlaubsbilder, die der jungen Gefolgschaft vermitteln: "Architektur ist für mich keine Selbstausbeutung, ich kann mir auch ein Privatleben leisten!" Wie viele naive Absolventen dadurch ins Verderben gelotst werden, weiß nur die Zukunft.

Erklärt dieses Erfolgsrezept schon seinen Siegeszug durch New York? Vielleicht ist es tatsächlich, wie sein deutscher Büropartner Kai-Uwe Bergmann sagt, eine Mischung aus skandinavischem Sozialgedanken, mediterranem Verve und amerikanischem Alles-ist-möglich. Für seinen nächsten Schritt braucht er alle drei, denn Bjarke Ingels wagt sich an den schwierigsten Ort der ganzen Stadt: den in jeder Hinsicht kontaminierten Ground Zero.

Dieser hat sich nach 2001 zu so etwas wie einer Schlangengrube für Stararchitekten entwickelt. Zuerst fiel ihm Daniel Libeskind zum Opfer, dessen fertiger Entwurf für One World Trade Center dem von David Childs geopfert wurde, welcher dann den von monströser Langweiligkeit geprägten Freedom Tower bauen durfte. Santiago Calatravas wiederum konnte zwar seinen WTC-Bahnhof realisieren, dessen filigrane Schwanenflügeloptik brach allerdings unter dem Gewicht unzähliger Sicherheitsvorkehrungen und vier Milliarden Dollar Baukosten schier zusammen.

Wachablöse

Für das Hochhaus World Trade Center 2 war schließlich Altstar Lord Norman Foster im Rennen, dieser bekam aber urplötzlich Konkurrenz, als Investor Larry Silverstein einen zweiten Entwurf bei einem jungen Dänen in Auftrag gab – genau Bjarke Ingels. Der Versuchung, hier von einer Wachablöse der Generation zu reden, zu widerstehen, ist kaum möglich. Dabei unterscheiden sich die beiden konkurrierenden Turmentwürfe nicht nur im Aussehen, sondern auch im Umgang mit der Stadt New York.

Während Fosters von stilisierten Diamanten gekrönter Skyscraper sicherlich gut funktionieren wird, aber ebenso auch in Dubai oder Shenzhen stehen könnte, präsentiert Bjarke Ingels ein Hochhaus, das es in New York noch nie gegeben hat, das aber genau nach New York passt: Ein wie mit leichter Hand hingeworfener Stapel verglaster Boxen von faszinierender Janusköpfigkeit. Ruhig und gravitätisch zum tragischen Ort Ground Zero, und metropolitan-lebendig zum quirligen Viertel Tribeca im Norden.

Wie bei allen Bauten des Dänen hat das Große auch hier etwas erstaunlich Müheloses, als wäre es das Normalste der Welt, in Manhattan bis zu 400 Meter Höhe ein paar gläserne Quader aufeinanderzustellen. Das Rennen zwischen dem 81-jährigen Briten und dem 42-jährigen Dänen ist noch nicht entschieden, im Juni dieses Jahres verkündete Larry Silverstein jedoch, Bjarke Ingels bleibe der Favorit.

Wer weiß, vielleicht wird der Ground Zero für ihn ausnahmsweise zum Geburtsort eines neuen Stars. Falls er den kürzeren zeiht, hat er schon das nächste Projekt in Manhattan in Arbeit: Sein Konzept "The Big U", das er zurzeit mit der Stadtregierung entwickelt, soll das Ufer von Manhattan vor steigendem Meeresspiegel und Hurrikanen schützen. Ganz der soziale Däne, will Bjarke Ingels New York eben nicht nur erobern, sondern gleich auch noch retten. (Maik Novotny, 20.11.2016)