Paris: Nirgendwo leben in der Eurozone mehr Menschen auf so wenigen Quadratkilometern, nirgendwo ist das Einkommen so hoch. Aber: Der Wohnungsmarkt ist einer der ungleichsten. In der Zehn-Millionen-Einwohner-Stadt lebt einer von 20 Hausbesitzern unter der Armutsgrenze, die für städtische Haushalte in Frankreich bei 1.000 Euro Monatseinkommen liegt. Bei Mietern unterschreitet diese Grenze einer von vier.

Die Wohnsituation in Paris zu analysieren ist ungleich schwieriger als in Wien, Berlin oder London. All diese Städte haben über die Jahre ihre Stadtgrenzen nach außen erweitert, weil sie aus allen Nähten zu platzen drohten. Paris hat das nicht gemacht. Die französische Hauptstadt hat sich zersiedelt und geht über die eigentliche Stadtgrenze hinaus. Deshalb werden für diese Analyse der Mietpreise nicht die Daten der Stadt innerhalb der engeren Stadtgrenze herangezogen, sondern auch die des umliegenden Stadtrands, der rein administrativ nicht mehr zu Paris zählt.

Die Mieten und Gehälter sind im Großraum Paris höher als im nationalen Durchschnitt. Das durchschnittliche Nettomonatseinkommen liegt bei 2.500 Euro. Das ist um ein Drittel mehr als im landesweiten Durchschnitt. Aber: Die monatliche Miete für eine Ein-Schlafzimmer-Wohnung auf dem offenen Markt liegt bei der Hälfte dieser Summe, 1.300 Euro. Eine Faustregel von Vermietern und Politikern lautet zwar, dass die Miete nicht mehr als ein Drittel des Gehalts ausmachen sollte. Geht es aber nach diesen Kriterien, könnte niemand in Paris mit einem durchschnittlichen Gehalt eine Wohnung in der Nähe des Stadtzentrums bezahlen.

Verschärfend kommt hinzu, dass diese Statistiken mit Durchschnittswerten arbeiten. Demnach kann ein einzelnes hohes Gehalt den Durchschnitt nach oben schieben. Laut Schätzungen ist ein übliches Einkommen eines Parisers näher bei 2.000 Euro im Monat anzusiedeln. Demnach würden 650 Euro für die Wohnung bleiben. Mit diesem Budget sind Wohnungen in neun von 143 Pariser Kommunen zu finden.

In Wien liegt der durchschnittliche Mietpreis für eine Ein-Schlafzimmer-Wohnung laut den Auswertungen der Daten, die beim Projekt rentswatch.com für Wohnungen auf dem freien Markt gesammelt werden, bei 620 Euro pro Monat. In der Inneren Stadt und im Bezirk Neubau überschreitet die Durchschnittsmiete diesen Wert markant.

Weil Wohnungen auf dem freien Markt für die meisten Pariser unbezahlbar sind, spielt geförderter Wohnbau eine wichtige Rolle. Ob jemand dafür infrage kommt, hängt von der Familiengröße, relativer Armut, Alter und weiteren, undurchsichtigen Kriterien ab. Für Alleinstehende unter 40 Jahren ist es so gut wie unmöglich, den Förderungskriterien zu entsprechen. "Es kann 15 oder 20 Jahre lang oder auch gar nicht klappen", sagt Maude. Sie ist 32 und lebt im Stadtteil Bobigny.

Auch mit größerer Familie sind geförderte Wohnungen ein seltenes Glück für Ansuchende. Herr Chafai lebt beispielsweise mit seiner Frau und drei Kindern in einer Ein-Schlafzimmer-Wohnung auf 40 Quadratmetern. Die Situation ist so angespannt, dass manche Mitarbeiter der Behörden für Vorreihungen Bestechungsgelder verlangen.

Maude lebt in einem Vorort von Paris. Ihre fünfköpfige Familie wohnte in einer geförderten Wohnung mit drei Schlafzimmern um 450 Euro pro Monat. Die Behörde für sozialen Wohnbau entschied dann, dass alle Familienmitglieder in jeweils Ein-Schlafzimmer-Wohnungen umziehen müssen. Diese kosten jetzt pro Monat etwa 600 Euro.

Für junge Menschen ist geförderter Wohnraum außer Reichweite. Kleinwohnungen sind gerechnet auf den Quadratmeterpreis deutlich teurer als größere Wohnungen. Eine Ein-Schlafzimmer-Wohnung kostet selten weniger als 500 Euro pro Monat. Eine doppelt so große Drei-Schlafzimmer-Wohnung in derselben Gegend ist dagegen oft um 800 Euro zu haben. Dieses Plus beim Quadratmeterpreis beträgt überall etwa 20 Prozent. Außer in Pariser Vororten.

Für den Großraum Paris gilt: je ärmer die Bevölkerung der Kommune, desto höher der Zuschlag für Kleinwohnungen beim Quadratmeterpreis. In Bobigny, wo einer von drei Bewohnern unterhalb der Armutsgrenze lebt, zeigt sich ein Plus von 42 Prozent für Ein- oder Zwei-Schlafzimmer-Wohnungen im Vergleich zu Drei- oder Vier-Schlafzimmer-Wohnungen. In Le Blanc-Mesnil fällt der Zuschlag noch höher aus: plus 60 Prozent. Eine 40-Quadratmeter-Wohnung kostet dort 1.000 Euro pro Monat, eine 80-Quadratmeter-Wohnung hingegen 1.270 Euro.

Für jemanden, der 2.500 Euro pro Monat verdient, wären diese 270 Euro verkraftbar. Für Paare, die mit einem Einkommen an der Armutsgrenze – 1.000 Euro – auskommen müssen, wäre es etwa ein Viertel des Monatsbudgets.

Die marktwirtschaftliche Theorie würde lehren, dass dieser Zuschlag das Resultat von Angebot und Nachfrage ist. Es gibt wenige Kleinwohnungen, viele Menschen suchen Kleinwohnungen. Nur: Das ist nicht der Fall.

"Les Courtillieres" ist eines der längsten Gebäude Europas. Es hat 655 Wohnungen. Derzeit wird es umgebaut: Der Komplex wird in kleinere Einheiten geteilt. Das soll die Lebensqualität verbessern und dunkle Ecken einsehbarer machen. So soll der Drogenhandel, der rund um das Gebäude zugenommen hat, eingedämmt werden.

Die einkommensschwächsten Pariser Kommunen sind auch jene, in denen die meisten Kleinwohnungen auf dem Markt sind. In Bobigny haben beispielsweise 70 Prozent der verfügbaren Wohnungen ein oder zwei Schlafzimmer. Im Zentrum der Stadt, wo viele Singles und Studenten wohnen, die üblicherweise Ein-Schlafzimmer-Wohnungen bevorzugen, liegt der Anteil der Kleinwohnungen am freien Markt bei etwa 50 Prozent.

Eine mögliche Erklärung für diese scheinbar verirrte Marktlogik könnte in Bevorzugungen bei sozialem Wohnbau liegen: Manche Städte vergeben geförderte Wohnungen eher an Langzeitbewohner einer Kommune. Wenn diese Praxis weitverbreitet ist oder genug Personen glauben, dass das ein Kriterium bei der Vergabe ist, dann gäbe es einen Anreiz für Mieter, zunächst eine teurere Wohnung zu nehmen in der Hoffnung auf eine geförderte Wohnung in der Zukunft.

Jean-Claude Driant, Professor am Pariser Institut für Urbanismus, vermutet, dass die Ursache für den Zuschlag eher woanders liegt. Mieter würden ohne Nachfrage akzeptieren, dass der Quadratmeterpreis nun einmal höher sei. Und Vermieter würden in der Folge wissen, dass sie die Wohnungen auch um einen höheren Preis anbringen können.

Die Ärmsten der Gesellschaft trifft die Wohnungsknappheit am stärksten. Mehrere Gerichtsfälle legen nahe, dass der soziale Wohnbau einkommensschwache Personen nicht unterstützt, sondern zur steigenden Ungleichheit beiträgt. (Anne-Lise Bouyer, Nicolas Kayser-Bril, 27.11.2016)