Die Gruppe der Jugendlichen, die maximal die Pflichtschule abschließen und Probleme haben, im Leben auf eigenen Beinen zu stehen, wächst: "Jeder sechste ist akut gefährdet."

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Bildungsexperte Steffen Hopmann kritisiert das neue Ganztagsschulprogramm: Die Regierung schütte Geld mit der Gießkanne aus – "wie in einer feudalen Pfründewirtschaft üblich".

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STANDARD: Die Regierung hat den Ausbau der Ganztagsschulen beschlossen, um sozial benachteiligten Kindern mehr Chancengleichheit zu bieten. Ein großer Schritt?

Hopmann: In keiner Weise, das ist hinausgeworfenes Geld. Es gibt keinen messbaren Nachweis, dass die Ganztagsschule die Chancengleichheit fördert.

STANDARD: Tatsächlich? Wenn ein Kind zu Hause nicht die nötige Unterstützung der Eltern bekommt: Bietet die Ganztagsschule da nicht per se bessere Unterstützung?

Hopmann: Allein davon wird nichts besser, die Ganztagsschule kann die Situation unter Umständen sogar verschlechtern: Wenn ein Kind mit sprachlichen, kognitiven oder sonstigen Defiziten den ganzen Tag unter anderen ist, die es auch nicht besser können, ist das nicht förderlich. Diese Kinder profitieren dann, wenn sie gezielte Förderung bekommen. Das ließe sich aber auch in der Halbtagsschule organisieren, denn die Nettounterrichtszeit bleibt ja gleich.

STANDARD: Wie sollte die Regierung die 750 Millionen also investieren?

Hopmann: Gezielt in mehr pädagogische Fachkräfte für jene Schulen, wo es besonders viele Kinder mit erhöhtem Förderbedarf gibt. Doch das tut die Regierung genau nicht. Die Schulen müssten ein pädagogisches Konzept erstellen, heißt es vage im Programm – aber Papier ist geduldig, und der Pool an Fachpädagogen wird nicht erhöht. Stattdessen schüttet die Regierung das Geld mit der Gießkanne über die Länder aus, da darf jeder – wie in einer feudalen Pfründewirtschaft üblich – einen Pot an die Untertanen verteilen. In ein paar Jahren wird man überrascht tun, wenn sich zeigt: Nichts von dem, was versprochen wurde, ist eingetreten. Lösen lässt sich auf diese Weise maximal das Betreuungsproblem berufstätiger Eltern.

STANDARD: Ist das denn nichts wert?

Hopmann: Das ist ein ehrenwertes Ziel. Aber dann soll der Herr Bundeskanzler bitte nicht behaupten, es gehe um die Förderung sozial schwacher Kinder – denn das ist unwahr. Tatsächlich handelt es sich um ein arbeitsmarktpolitisches Programm für eine höhere Beschäftigungsquote bei jungen Frauen, bei dem private Kinderbetreuungskosten auf die öffentliche Hand übergewälzt werden. Bei knappen Kassen stellt sich aber die Frage, was Priorität haben sollte: die Entlastung von Haushalten mit Doppeleinkommen oder die Förderung notleidender Kinder? Die Koalitionsparteien haben sich für die eigene Klientel, die berufstätige Mittelschicht, entschieden.

STANDARD: Sozial schwache Familien profitieren doch ebenfalls.

Hopmann: Schon auch. Aber generell stehen die Eltern jener Kinder, die am härtesten getroffen sind, nicht beide in geregelten Beschäftigungsverhältnissen. Das Problem mangelnder Zeit für die Kinderbetreuung stellt sich da weniger.

STANDARD: Bringt die Ganztagsschule denn nicht mehr Zeit für die Familie, weil Hausaufgaben überflüssig werden?

Hopmann: Auch das ist ein falsches Versprechen. In Ländern, in denen Ganztagsschulen vorherrschen, sind die Aufwendungen für Nachhilfe auch nicht geringer – trotz steigender Zahlen liegt Österreich im Vergleich noch am unteren Ende. Es ist keineswegs so, dass bürgerliche Eltern nicht mehr dahinter sind, wenn das Kind erst um vier Uhr nachmittags aus der Schule kommt. Südkorea hat deshalb sogar versucht, Nachhilfe nach 22 Uhr zu verbieten. Die Regierung musste das Gesetz freilich einstampfen, nachdem sich herausgestellt hat, dass sich die Minister bei ihren eigenen Kindern selbst nicht daran hielten.

STANDARD: Wurden Sie von der Regierung zu den Beratungen über die Ganztagsschule beigezogen?

Hopmann: Ja, ich wurde von beiden Seiten gefragt, doch irgendwann ist mir der Kragen geplatzt. Im Unterrichtsausschuss habe ich auf die fehlenden wissenschaftlichen Belege für den Nutzen der Ganztagsschule hingewiesen, worauf Bildungsministerin Sonja Hammerschmid unmissverständlich gesagt hat: Das sei ihr völlig egal, sie glaube trotzdem daran. Daraufhin habe ich alle weiteren Termine gecancelt. Wenn Politiker nur jene empirischen Ergebnissen hören wollen, die ihnen recht geben, verschwende ich meine Zeit dafür nicht.

STANDARD: Wie groß ist die Gruppe der Kinder, die mehr Unterstützung bräuchten?

Hopmann: Österreich ist noch auf hohem Niveau, zumal immerhin 90 Prozent der Schüler einen Sekundarabschluss erreichen. Aber die Gruppe jener, die maximal Pflichtschulabschluss erreichen und sich schwertun, auf eigenen Füßen in der Gesellschaft zu stehen, wächst – derzeit ist jeder sechste Jugendliche akut gefährdet. Wir sind noch nicht so weit wie etwa in England und den USA, wo ganze Bevölkerungsgruppen abgeschrieben sind, bewegen uns aber in diese Richtung. Noch ist der Prozess zu stoppen, dafür muss aber bereits im Kindergarten angesetzt werden.

STANDARD: Was sind die Gründe für den Anstieg?

Hopmann: Da spielen viele Faktoren mit, einer davon ist: Wir haben in den letzten 30, 40 Jahren eine massive Umverteilung erlebt, bei der die unteren Einkommen verloren und die oberen Einkommen gewonnen haben. Die Debatte um die Mindestsicherung kündigt die nächste Katastrophe an: Eine Kürzung produziert wieder einen Haufen Kinder, denen die nötigen Ressourcen fehlen.

STANDARD: Ist die starke Zuwanderung auch eine Ursache?

Hopmann: Das Phänomen als Migrationsproblem zu deklarieren ist grober Unfug. Es hat nur insofern damit zu tun, als Österreich den Bedarf an Billigarbeitskräften traditionell mit Import gestillt hat und es deshalb ein Übergewicht von Zuwanderern mit relativ geringem kulturellem Bildungskapital gibt. Das Risiko zu scheitern ist für bestimmte Zuwanderergruppen deutlich höher als im Schnitt, für andere Gruppen gilt aber das genaue Gegenteil. Es sind immer noch die Einheimischen, die die große Mehrheit der Gescheiterten stellen: Das Verhältnis liegt irgendwo zwischen 2:1 und 3:1. (Gerald John, 24.11.2016)