Wien – Das ewige Ausharren in der Warteschleife ist erst der Anfang. I, Daniel Blake, das neue Sozialdrama von Ken Loach, das in Großbritannien gerade für volle Kinos sorgt, erzählt wie viele Filme des 80-jährigen Briten von den Kalamitäten eines Arbeiterlebens.

Der 59-jährige Tischler Daniel Blake (fulminant: Stand-up-Comedian Dave Johns) gerät nach einem Herzinfarkt in die Mühlen des teilprivatisierten Sozialsystems, weil ihm die finanzielle Unterstützung verweigert wird. Loachs Film trifft im sozial ausgehöhlten Post-Brexit-Großbritannien offenbar einen blank liegenden Nerv. Auf dem Filmfestival von Cannes wurde er für seine kämpferische Tragikomödie dieses Jahr bereits zum zweiten Mal mit der Goldenen Palme ausgezeichnet.
STANDARD: In der Art, wie "I, Daniel Blake" von den Mühlen des Sozialsystems erzählt, fühlt man sich an Kafkas "Vor dem Gesetz" erinnert. Wie kam es zu dem Fokus auf Bürokratie und Menschenverschleiß?
Loach: Eigentlich ganz klassisch. Paul (Laverty, sein Drehbuchautor, Anm.) und ich haben von diesen schlimmen Geschichten seit der Privatisierung des Wohlfahrtssystems gehört und mit Leuten in sechs oder sieben britischen Städten gesprochen, etwa in Jobcentern oder Lebensmittelausgaben. Überall gab es Leute, die bestraft und sanktioniert wurden, weil sie irgendeine Auflage nicht erfüllt haben. Wir hätten die Geschichte noch viel extremer machen können, aber wir haben uns bewusst für jemanden entschieden, der eigentlich kein Opfer ist. Man blickt Daniel an und denkt sich: "Der wird es schon schaffen, er ist ein heller Kopf." Wenn es Leute wie ihn erwischt, dann kann es jeden erwischen.
STANDARD: Mit "Cathy Come Home" haben Sie 1966 schon einmal von den Lücken der Wohlfahrt erzählt. Hat sich die Situation seitdem verschlechtert?
Loach: Die jüngste Veränderung kann man in den Lebensmittelbanken sehen. Vor sechs Jahren haben sie kaum existiert, man gab ca. 25.000 Essenspakete im Jahr aus. Nun hat allein eine Gruppe mehr als eine Million Pakete verteilt – die Hälfte davon an Kinder. Man füttert Kinder mit der Wohlfahrt! Schon im 19. Jahrhundert hat die herrschende Klasse zwischen zwei Formen von Armut unterschieden. Man erstattete denen Hilfe, die es verdienten. Denen, die es nicht verdienten, trat man hingegen in den Hintern. Diese Denkart darüber, wie man mit Menschen verfährt, die armutsgefährdet sind, ist in England immer lebendig geblieben. Die bürokratischen Fallen sind das gegenwärtige Missbrauchsmittel.
STANDARD: Ihr Film vermittelt eine Form von Solidarität zwischen den Generationen – ist das nicht etwas, das man nach der Brexit-Entscheidung eher als Bruchlinie sehen wollte?
Loach: Die meisten Kommentatoren sind falsch gelegen. Der größte Sturm wurde von der populären Presse entfacht, die rechtsgerichtet ist und einen Anti-EU-Kurs eingeschlagen hat. Sie wollten mit dem Brexit die Wiedererlangung von Kontrolle suggerieren. Was für eine Phrase! Denn die Souveränität liegt weiter beim Großkapital. Die Brexit-Befürworter sind sogar glücklich damit, die Souveränität abzugeben. Dafür präsentieren sie sich umso wehrhafter gegenüber Einwanderern. Die Übergriffe aus Hass haben nach den Wahlen zugenommen. Es gibt eine offene Xenophobie, die jedoch selbst unehrlich ist. Denn dass ausländische Unternehmen unsere Eisenbahnen besitzen oder unsere Gesundheitssystem unterstützen, damit haben sie kein Problem.
STANDARD: Warum haben linke Positionen kaum eine Rolle gespielt?
Loach: Ein Teil der Arbeiterklasse, in Gegenden, die lange missachtet wurden, fühlt sich absolut entrechtet. Ihre Brexit-Entscheidung war ein Protest. Dies war eine Verschiebung von der Linken. Und das Dilemma für viele Linke ist doch, dass die EU selbst eine neoliberale Organisation ist. Sie will Privatisierung, sie erniedrigt die Gewerkschaften, die Rechte der Unternehmen gehen vor den Rechten der Arbeiter – man muss sich nur anschauen, wie man mit Griechenland umgegangen ist. Die Frage ist also nicht, ob man dieses ökonomische Projekt unterstützt, das die EU ist, sondern wie man es am besten attackiert: entweder von innen, indem man Verbindungen schafft, oder von außen, indem man sie zerstört. Eine Frage der Taktik, die jedoch niemand hören wollte und will.

STANDARD: Ihr Filmheld Daniel Blake ist als ehemaliger Tischler einer von denen, die vom System ignoriert werden. Warum haben Sie sich beim Darsteller Dave Johns für einen Komiker entschieden?
Loach: Einerseits ging es um seine spezielle Form des Humors. Noch wichtiger jedoch war mir die Authentizität. Er hat dasselbe Alter wie die Figur und begann sein Arbeitsleben als Maurer. Und er ist auch aus Newcastle. Zugleich ist er jemand, den das Publikum mögen wird, weil er etwas Warmherziges hat. Als wir die Proben machten, ging er die Figur direkt, ohne Umschweife an. Man glaubt ihm, weil er etwas Einnehmendes hat.
STANDARD: Ging es auch um seine Performance-Qualitäten? In der postkapitalistischen Ära gilt es ja auch immer, sich selbst zu verkaufen.
Loach: Ja, wobei er ja von der digitalen Welt keine Ahnung hat. Ich glaube auch nicht, dass es eine postkapitalistische Ära gibt, das ist der reine Kapitalismus, und zwar ganz so, wie er gemeint war. Postkapitalismus, das ist, wie wenn man sagt, es gibt keine Arbeiterklasse mehr, nur eine Unterklasse. Es gibt große Konzerne, die auf die billigsten Arbeitskräfte aus sind – so funktioniert das Kapital von jeher.
STANDARD: Wie sieht es mit Ihren eigenen Arbeitsmethoden aus: Früher haben Sie den Darstellern die Entwicklungen des Plots verschwiegen ...
Loach: Das ist immer noch so. Auch Dave wusste einige Dinge nicht, etwa, was bei der Essensausgabe geschehen würde. Er wusste auch nicht, wofür sich Kathy entscheiden musste, um zu Geld zu kommen. Das Ende kannte er natürlich auch nicht. Das hilft mir, denn es ist doch so, dass Menschen immer im Moment leben. Wenn man die Dinge vor dem Dreh schon kennt, dann verliert man diese unmittelbare körperliche Reaktion.
STANDARD: Gestatten Sie mir eine allgemeine Frage: Woher nehmen Sie die Energie, immer noch so systemkritisch zu sein?
Loach: Ironischerweise haben wir schon Ende der 1960er-Jahre, als wir vom Mai in Paris sensibilisiert waren, über den Zusammenbruch des Kapitalismus gesprochen, so als würde er nächstes Wochenende passieren. Heute ist linke Politik nicht mehr so modern, aber der Zusammenbruch scheint näher denn je. Es muss sich etwas ändern. Die Lage ist sehr kritisch. Man geht doch nicht vor dem Ende des Films. (Dominik Kamalzadeh, 25.11.2016)