Der VW-Skandal legt offen, wo es im europäischen Verbraucher- und Anlegerrecht noch hapert.

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"Ich habe 20.000 Euro investiert. Der Verlust beträgt nun 8500 Euro", sagt ein Unternehmer aus dem Großraum Wien: Er ist wie zigtausende andere Kleinanaleger einer der Betroffenen des Abgasskandals bei VW. 2013 hatte er eine Aktienanleihe des Wolfsburger Autokonzerns gezeichnet. Diese wurde in Aktien umgewandelt – danach der Schock: Nachdem die kalifornische Umweltbehörde ans Licht gebracht hatte, dass sich der 2014 weltweit umsatzstärkste Autobauer mit einer Mogelsoftware durch Abgastests schummeln wollte, sackte der Kurs der VW-Aktie ab und erholte sich nur teilweise.

Doch ist der Geschäftsführer eines mittelständischen Ingenieurbüros bloß ein Spekulant, der die Risiken des Kapitalmarkts einfach hinnehmen muss? Eigentlich nicht, meint er. Denn der Unternehmer hatte sein Geld nicht in Aktien eines obskur wirkenden Unternehmens oder in Derivate gesteckt. Nein, er hatte sich den zweitgrößten Autobauer nach Toyota ausgesucht: ein seriöses, deutsches Unternehmen mit einem diversifizierten Geschäftsmodell und langer Tradition.

Dass genau so ein Unternehmen wie VW nicht mit deutscher Gründlichkeit Autos entwickelt hat, sondern ihnen ein sogenanntes "Defeat Device" (Abschalteinrichtung bei Abgastests) verpasst hatte, war eine herbe Enttäuschung – nicht nur für Anleger. Diese wurde anschließend aber umso größer, weil der Autokonzern in den USA zur Wiedergutmachung des Schadens bereits Milliardenbeträge bezahlt hat, nun aber in seiner Krisen-PR in Europa Kunden glauben machen will, dass man eigentlich keine Fehler gemacht hat.

Schamesröte

Genau das glaubt der Wiener Anlegeranwalt Eric Breiteneder aber nicht, der den Geschäftsführer gegen VW nun vertritt. Seine Kanzlei im Wiener DC-Tower hat sich auf Massenschadenfälle am Kapitalmarkt spezialisiert. "Am Ende des Tages wird die Affäre VW eine Stange Geld kosten", sagt Breiteneder. Gern verweist er etwa auf ein glattes Schuldeingeständnis des Konzerns – in Form einer in den Niederlanden geschalteten Inseratenkampagne, in der sich VW bei seinen Kunden entschuldigte: "Unsere neue Farbe ist die Schamesröte", teilte VW vor Monaten seinen niederländischen Kunden mit.

Für Anleger bedeuten solche Eingeständnisse aber nicht, dass Ansprüche im Handumdrehen eingeklagt werden können und der erlittene Kursschaden in ein paar Monaten ersetzt wird. Die Realität ist eher, dass Anleger zuerst einmal überlegen müssen, wie sie juristische Schritte gegen VW finanzieren. Der Geschäftsführer hatte beispielsweise eine Rechtschutzversicherung, die zuerst eher widerwillig, nach "sanftem Druck" aber doch bereit war, die Prozesskosten wie Gerichtsgebühren, Anwalts- und Gutachterhonorare im Fall des Prozessverlustes zu übernehmen.

Da sich Rechtschutzversicherungen nach den Kapitalmarktturbulenzen von 2008 aber sträuben, bei Neuverträgen auch Anlegerstreitigkeiten mitzuversichern, sind heutzutage geprellte Anleger mit Rechtsschutz eher zur Ausnahme geworden. Daher traten nun viele Prozesskostenfinanzierer auf den Plan, die um geschädigte Anleger buhlen.

Der Deal: Die Anleger treten dem Finanzier alle Ansprüche ab; sollte der Prozess gewonnen werden, bekommt der Finanzierer bis zu 35 Prozent des erstrittenen Betrags. Verliert man, zahlt er alle Kosten – üblicherweise lagert der Finanzierer aber wiederum seine Risiken an professionelle Investoren aus.

Gefährliche Wette

Anwalt Breiteneder sieht dieses Wetten auf den Ausgang von Prozessen aber nicht unkritisch. Denn: "Es besteht die Gefahr, dass Anleger sozusagen ihre Seele verkaufen und danach die Ansprüche für zehn Jahre in Deutschland schlummern." Allein am Gerichtsstand Braunschweig sind derzeit Klagen im Gesamtstreitwert von mehreren Milliarden Euro anhängig, berichtet Severin Hammer von der Kanzlei Breiteneder.

Der Wiener Jurist präferiert eher ein System, das derzeit weder der Gesetzgeber in Deutschland noch in Österreich vorgesehen hat, das aber in den Niederlanden möglich ist: ein Sammelverfahren, in dem für alle Betroffenen gemeinsam eine Lösung errungen wird.

Nach niederländischem Recht übernehmen spezielle Stiftungen die Vertretung der geschädigten Anleger. So auch die Stiftung VW Investors Claim, die Breiteneder initiiert hat. Inhaber von Anleihen im Volumen von zwölf Milliarden US-Dollar haben sich bereits bei ihr gemeldet – der Löwenanteil der Summe stammt natürlich von institutionellen Investoren wie Fonds bis hin zum Boston Retirement Fund, der Pensionskassa der Lehrer der US-amerikanischen Großstadt.

Ziel der Stiftung ist es, einen Vergleich zu erwirken. Dieser kann, je nach Ausgang des Verfahrens, gleich für alle Anleger gelten, wobei aber Einzelne den Vergleich auch ablehnen können – oder er gilt nur für jene Investoren, die den Vergleich explizit annehmen.

Kollektive Geltendmachung von Schadenersatz

Genau so ein Vergleich würde auch dem Geschäftsführer, der 8500 Euro mit VW-Aktien verloren hat, zusagen. "Bei 75 Prozent wäre ich sicher dabei", sagt der Privatanleger. Allerdings steht sein Fall nur symbolisch für viele Streitigkeiten am Kapitalmarkt, die es bereits gibt oder die noch kommen werden. Doch wie werden Anleger in Zukunft ihre Rechte geltend machen? Mit Ausnahme von den Niederlanden kennen die Rechtsordnungen in so ziemlich allen EU-Mitgliedsländern keine Sammelverfahren – bestenfalls gibt es Musterprozesse wie etwa das deutsche Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz.

Breiteneder verweist hier auf eine Empfehlung der EU-Kommission, wonach die Mitgliedsstaaten Gesetze zur kollektiven Geltendmachung von Schadenersatz in ihren Rechtsordnungen implementieren sollen. "Das wird umgesetzt werden." Anleger, Konsumenten oder auch Unternehmen wie etwa jüngst in einem Fall um Preisabsprachen bei Lkws werden dann rascher und einfacher Kompensation erhalten. Für die schädigenden Unternehmen bietet ein derartiges System den Anreiz, Rückstellungen wegen zu erwartender Zahlungen aus Affären schneller aus den Bilanzen zu haben.

Andere wiederum bezweifeln, dass ein EU-weit einheitliches Entschädigungssystem rasch kommen wird: VKI-Chefjurist Peter Kolba etwa glaubt, dass Politik und Verbraucherschutzorganisationen in der EU gegenüber der Wirtschaftslobby, die stets vor US-amerikanischen Verhältnissen mit Sammelklagen und ihrer Meinung nach opportunistischen Anwälten warnt, eingeknickt seien. Bisher habe die Kommission mit ihrem Vorschlag bloß eine "bunte Vielfalt an Verfahren" in Europa heraufbeschworen, ohne den Geschädigten wirklich juristisch taugliche Waffen in die Hand gegeben zu haben.

In den USA hingegen funktioniere das System – vor allem, weil es dort das Institut des sogenannten Strafschadenersatzes gibt: Unternehmen, die Anleger oder Verbraucher geprellt haben, bekommen über die Kompensation direkt verursachter Schäden hinaus Zahlungen aufgebrummt. Diese Mehrzahlungen stellen eine Art Strafe dar. Und diese wirkt abschreckend. In der EU "lohnt sich Unrecht hingegen noch", kritisiert der Verbraucherschützer.

Zum Vergleich: VW etwa hatte kurz nach Auffliegen des Skandals 16,4 Milliarden Euro vorsorglich für etwaige Kosten der Affäre rückgestellt – allein in den USA zahlte man 13,8 Milliarden Euro. Daher heißt es mangels tauglicher Sammelverfahren in der EU für die Anleger vorerst: Bitte warten. (Oliver Jaindl, Portfolio 2016)