Wer nach einem Crash-Kurs in amerikanischer politischer Kultur sucht, sieht sich am besten die Reaktionen wütender Amerikaner auf Donald Trumps Wahlsieg genau an: Die Wahl am 8. November war kein Ende, sondern vielmehr ein auslösendes, verstärkendes Moment für politisches Engagement einzelner Personen – oder ganzer Gruppen.

Dass so viele Amerikaner nach der Wahl aufgeheult und geweint haben, mag in Österreich vielleicht etwas seltsam gewirkt haben. Doch es ist leicht zu sagen: Was soll's, so ist eben Demokratie, sie hat ihren Lauf genommen, die Amerikaner können ohnehin in vier Jahre wieder wählen…

Doch eine solche Perspektive ignoriert wichtige, grundlegende Eigenschaften der amerikanischen politischen Kultur. Es ist eine Kultur, die sich im Slogan "We the people" – Wir, das Volk – ausdrückt: Jeder Bürger ist im Staat direkt repräsentiert. Dazu zählt auch der Gedanke, dass jeder Bürger selbst im Sinne der Gemeinschaft tätig wird und sich nicht darauf verlässt, dass "der Staat" automatisch für seine Bürger sorgt – eine Haltung, die etwa in Europa weit verbreitet ist.

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"We the People" – Amerikaner fühlen sich den Prinzipien ihrer Verfassung von 1787/89 bis heute stark verbunden.
Foto: REUTERS/Jonathan Alcorn

Seit jeher haben die Amerikaner ihre Probleme durch initiatives und kollektives Handeln gelöst. So schrieb schon 1853 der französische Diplomat und Wissenschaftler Alexis de Tocqueville in seinen Werk Demokratie in Amerika: "Sobald mehrere Einwohner der Vereinigten Staaten eine Meinung oder ein Gefühl angenommen haben, das sie in der Welt fördern wollen, achten sie auf die gegenseitige Unterstützung; und sobald sie einander gefunden haben, verbinden sie sich." Dies stimmt immer noch: Als Bürger helfen Amerikaner lieber sich selber, als darauf zu warten, vom Staat Hilfe zu bekommen.

Verzweifelte Bürger fragen: "Was können wir tun?"

Nach dem ersten Schock haben sich viele Amerikaner gefragt, was sie jetzt tun können. Dass Donald Trump am 20. Jänner als 45. Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt wird, kann nicht verhindert werden. Jetzt geht es darum, eine Möglichkeit zu finden, kollektive Sorgen und Beschwerden zu formulieren und Maßnahmen zu ergreifen.

In Chicago publizierten die Redakteure des Online-Magazins "Chicagoist" unmittelbar nach der Wahl eine Liste mit Tipps, wie Einwohner ihre Ängste und ihren Ärger kanalisieren können, um gemeinsam aktiv zu werden. Auch in anderen Medien gab es ähnliche Initiativen, wie etwa auf "Elle": What Next? Practical Things You Can Do Today to Keep Hope Alive; auf "Slate.com": How to Channel Your Post-Election Anger, Sadness, and Fear Into Action; und auf "The Huffington Post": 8 Steps to Organize Against Trump – Starting Now.

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In der New Yorker U-Bahn-Station am Union Square haben Menschen damit begonnen, auf Post-its Botschaften zu verbreiten, die Hoffnung geben sollen.
Foto: AP / Muhammed Muheisen

"Die Menschen sind frustriert", erklärt Doug Imig, Politikprofessor an der University of Memphis, dem STANDARD. "Sie wollen wissen: Wie übersetzt man eine kollektive Beschwerde in eine kollektive Identität und wie übersetzt man eine kollektive Identität in soziales Handeln?"

Laut Imig ist es noch zu früh, um genau festzustellen, wie sich Frustrationen und das Gefühl von Ungerechtigkeit zu diversen Aktionen und Bürgerinitiativen führen werden. Er glaubt aber fest daran: "Es tut sich etwas, und es ist etwas sehr Reales."

Grassroots-Bewegungen: Zusammenarbeit und Verteilung von Ressourcen

Kurz nach Trumps Sieg begann die New Yorker Aktivistin Ariel Federow unter dem Titel "Oh Crap! What now survival guide" (Oh verdammt, was nun? Ein Überlebensleitfaden) ein offenes Dokument auf der Internetplattform Google Docs, das von Beiträgern ergänzt und verändert werden konnte. Ziel war es, Ressourcen, Tipps und Strategien für Amerikaner aufzulisten, die nicht wissen, ob sie unter der künftigen Präsidentschaft Trumps weiterhin die gleichen Rechte auf Krankenversicherung, Einwanderung, Verhütung etc. bekommen.

"Ich erstellte ein Dokument, skizzierte die Umrisse und füllte aus, was ich wusste," sagt Federow im Gespräch mit dem STANDARD. "Dann habe ich es auf Facebook geteilt, und es wuchs weit über jene Größe hinaus, die ich mir vorgestellt hatte." Nach wenigen Tagen gab es so viele Seitenabrufe, dass Google Docs damit nicht mehr umgehen konnte. Federow legte den Inhalt deswegen auf der Blogging-Plattform WordPress neu an. Innerhalb von nur vier Tagen bekam die neue Webseite 45.500 Besucher und 122.000 Seitenaufrufe, sagt sie.

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Viele Frauen und Minderheiten fühlen sich nun stärker gefährdet als unter Barack Obama.
Foto: Reuters / Elijah Nouvelage

Der "Oh Crap Guide" ist Teil eines größeren Trends. Ähnliche Seiten und offene Google-Dokumente – die Ressourcen für Transgender- und LGB-Personen, Frauen, Migranten, Behinderte, und andere Betroffene zur Verfügung stellen – sind überall im Internet schnell zu finden. Und es gibt jeden Tag immer noch neue. Dazu gehört auch die Online-Brochüre "I’m with Activism", eine zweiseitige Checkliste, die Aktivismus-Anfängern helfen soll, sich auf dem richtigen Weg zu halten.

Druck auf Abgeordnete

Anders als in Österreich sind alle amerikanischen Abgeordneten, sowohl auf nationaler, als auch auf bundesstaatlicher und lokaler Ebene, direkt an einen Wahlkreis gebunden: Jeder Amerikaner kann in weniger als eine Minute erfahren, welcher Abgeordnete etwa im Senat oder im House of Representatives für sie zuständig ist.

Seit Trump als zukünftiger Präsident genannt wurde, rufen täglich Bürger auf Facebook, Twitter und auf diversen anderen Sozialen Medien dazu auf, den zuständigen Senatoren und Kongressleuten zu schreiben oder sie anzurufen. Auf diese Weise soll Widerstand gegen bestimmte politische Pläne oder Handlungen geäußert werden. Tausende äußerten so ihre Bedenken gegen bestimmte Postenbesetzungen in Trumps zukünftigem Kabinett. Ihre Hoffnung: dass der zuständige Politiker diese Stimmen im Kongress oder an anderer Stelle zu Gehör bringt.

Diese Strategie ist nicht neu: Viele Protest- und Politik- Bewegungen wenden sie mit Erfolg an, zum Beispiel die Mitglieder der republikanischen Tea Party.

Politische Teilhabe

Um diese Form politischer Teilhabe einfacher zu machen, hat eine Software-Designerin in Brooklyn schon eine Webseite entwickelt: Amerikaner brauchen bloß ihre Postadresse eintippen, um sogleich die Namen und Telefonnummern ihrer Abgeordneten abzurufen und im Handy zu speichern. Die Seite heißt "CallTrumpOut.com".

Auf der offenen Google-Tabelle "We’re His Problem Now" finden verzweifelte Bürger mehrere Tipps, Strategien, und sogar fertig formulierte Texte, die sie bei Telefonaten mit Abgeordneten bloß abzulesen brauchen.

Die Ernennung von Stephen Bannon, Ex-Chef der rechten Webseite "Breitbart", zu Trumps Chefstrategen sorgte in den USA und international für Proteste.
Foto: AFP / David MvNew

Dazu gibt es jede Woche eine "Call to Action", einen Aufruf zu zivilgesellschaftlichem Engagement, wo es um spezifische Themen und Handlungsanleitungen geht. Bisher gab es solche Aufrufe zum Beispiel gegen die Ernennung von Stephen Bannon als Trumps Chefstratege; für die weitere Unterstützung von Obamacare; für eine Kongress-Untersuchung von Trumps möglichen Interessenkonflikten; und gegen Angriffe auf Demonstranten bei der umstrittenen Dakota Access Pipeline ("Standing Rock"-Bewegung).

Boycott

Natürlich geht es in den USA, dem Zentrum des Kapitalismus, immer irgendwie ums Geld, auch im politischen Handeln. Amerikaner haben eine lange Tradition des Boykottierens, was in den vergangenen Monaten besonders gut zu erkennen war. Boykott-Kampagnen gegen Trump fingen etwa schon im Oktober auf Twitter mit den Hashtag #GrabYourWallet an, und gleich nach der Wahl tauchten sie auch auf der Google-Doc-Plattform auf.

"Wenn ein Geschäftsführer, Vorsitzender oder Primärinvestor eine öffentliche Unterstützungserklärung abgibt oder Millionen von Dollar zur Finanzierung von Donald Trump spendet, verdient er es, für diese öffentliche Position zur Rechenschaft gezogen zu werden," heißt es auf der Webseite "The DJT Resistance", eine weitere Boycottkampagne. "Unser Geld muss auch für die Werte und die Menschen stehen, in die wir glauben."

Zu den Unternehmen, die Trump oder seine Partei unterstützt haben sollen, gehören nicht nur die Trump-Hotelkette und die Ivanka Trump-Schuhmarke, sondern auch Hobby Lobby, Forbes, New Balance und NASCAR.

Dagegen haben einige Republikaner schon vor der Wahl aufgehört, Waren und Dienstleistungen von Firmen wie Pepsi, Oreos und Netflix zu kaufen, weil diese Marken angeblich nur Demokraten finanziell oder ideell unterstützen.

Spenden für Nonprofit-Organisationen

Nach der Wahl wurde aber nicht nur Geld zurückgehalten, sondern auch gespendet. Nonprofit-Gruppen, besonders solche, die im politischen Bereich aktiv sind, verzeichnen momentan Spendenrekorde. Dazu gehören insbesondere Planned Parenthood – eine Organisation, die medizinische Versorgung anbietet und vorrangig im Bereich Familienplanung tätig ist – und die American Civil Liberties Union (ACLU) – die seit 1920 durch Rechtsstreitigkeiten, oft gegen den Staat, und Lobbying für amerikanische Grundrechte kämpft.

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Planned Parenthood erfährt in den Wochen seit Trumps Wahl vermehrt Unterstützung.
Foto: AP / Nick Ut

In einen Zeitraum von nur fünf Tagen verzeichnete die ACLU 150.000 neue Newsletter-Abonnenten und erhielt mehr als 7,2 Millionen Dollar durch 120.000 individuelle Spenden, berichtet Geschäftsführer Anthony D. Romero. "Dies ist die größte Ausbreitung der Unterstützung für die ACLU in unserer fast 100-jährigen Geschichte", schrieb Romero am 14. November auf der ACLU Webseite. "Diese Unterstützung wird genutzt, um die Rechte aller Amerikaner zu schützen." (Stephanie Russell-Kraft, 27.11.2016)