Wien – Sie ist mittlerweile Mutter einer Tochter und geht schon auf die 40 zu, und doch musiziert sie immer noch mit glühenden Wangen, agiert mit kindlicher Impulsivität, mit der Unbekümmertheit und Unbedingtheit des ersten Lebensalters. Sie ist ein Wirbelwind und ein Wildfang, die Musik scheint ihr eine Spielwiese zu sein, auf der sie herumtollen kann, rasen, hüpfen, stürmen und schleichen.

Ja: Patricia Kopatchinskaja war wieder einmal zu Gast im Wiener Konzerthaus, und im Mozartsaal johlten am Ende ihres Konzerts selbst Publikumssegmente jenseits des Pensionsantrittsalters, denen man spontan ein Faible für Bausparverträge und/oder Dinkelgebäck zugeschrieben hätte, wie beim Rodeo. Die moldauisch-österreichische Geigerin war mit dem Saint Paul Chamber Orchestra zum Festival Wien Modern angereist sowie mit Stücken ihres neuesten Albums, das Franz Schuberts Streichquartett D 810 Der Tod und das Mädchen zum Zentrum hat.

Aufrührerin und Extremistin

Patricia Kopatchinskaja hat das Werk für Streichensemble bearbeitet – in abwechslungsreicher und kluger Weise. Mit einer folkloristisch angehauchten Soloimprovisation hielt sie Einzug in den Kreis ihrer Kollegen, dann wurde sie sogleich zur Anführerin der Truppe, zur Aufrührerin und Extremistin, die Schuberts Gefühlswelten mit körperlicher, handgreiflicher Intensität zu klingendem Leben erweckte.

Berührend, als Kopatchinskaja einen Ausschnitt des gleichnamigen Gedichts von Matthias Claudius zur Musik mitsang: Hier schienen die Figur des Textes und die Künstlerin kurz zu verschmelzen. Zwischen den Sätzen positionierte Kurzwerke von John Dowland (Lachrimae Antiquae Novae Pavan) und György Kurtág (The Answered Unanswered Question op. 31b sowie eines der Kafka-Fragmente op. 24) ergänzten und erweiterten das Schubert-Werk in eigenwilliger Weise in Richtung Vergangenheit und Gegenwart.

Lächelnde Gefolgschaft

Das vital musizierende Saint Paul Chamber Orchestra aus Minnesota war ihrer kindlichen Konzertmeisterin eine lebendige, glückselig lächelnde Gefühlsgefolgschaft; lediglich die ersten Geigen irritierten durch leichte Intonationstrübungen.

Gideon Kleins in Theresienstadt entstandene Partita für Streichtrio (Fassung für Streichorchester) und Tigran Mansurians Konzert für Violine und Streicher Nr. 2 waren dem Schubert-Komplex vorausgegangen: Beim 2006 uraufgeführten, stimmungsstarken Werk des armenischen Komponisten konnte Kopatchinskaja erstmals all ihre Gefühlsgewalten anklingen lassen. Eine furiose Mendelssohn-Zugabe (3. Satz des Violinkonzerts d-Moll) mit Improvisationsanteilen beschloss den tollen Abend. Begeisterung. (Stefan Ender, 27.11.2016)