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"Ich bin 26 Jahre alt, alleine mit drei kleinen Kindern mitten in einem Krieg. Eine erschütternde Erkenntnis", so erzählt Hurka, mittlerweile 50 Jahre alt, eine muslimische Bosniakin, die am Anfang des Bosnienkriegs im April 1992 aus ihrem Dorf in Ostbosnien flüchten musste und mittlerweile in Österreich lebt. Ihres und das Schicksal von sechs anderen damals noch jungen Menschen aus Bosnien-Herzegowina nahm die Wiener Journalistin Adisa Begić als Anlass, um ein Buch über den Bosnienkrieg zu schreiben, ein so tiefschneidendes Ereignis, von dem sich dieses Balkanland auch 21 Jahre danach nicht vollständig erholte.

Der Bosnienkrieg vom April 1992 bis November 1995 gilt als eine der bestdokumentierten kriegerischen Auseinandersetzungen der jüngsten Geschichte. Zahlreiche Dokumentarfilme, Geschichtsbücher, politische Abhandlungen oder wissenschaftliche Arbeiten geben einen tiefen Blick in die Ursachen, den Verlauf und die Folgen des grausamsten europäischen Konflikts nach dem Zweiten Weltkrieg. Ohne Zeitzeugenberichte wäre es jedoch kaum möglich, sich in das Grauen eines Krieges hineinzuversetzen und das Leiden der Menschen nachzuvollziehen.

Nach einem Krieg und dem damit verbundenen Trauma entscheiden sich jedoch wenige Menschen, über das Geschehene zu sprechen. Man möchte nicht auffallen, man schämt sich, man will es einfach verdrängen. Das wusste auch Begić, als sie sich entschied, das Buch zu schreiben: "Ich wollte diese Geschichten erzählen, um sie festzuhalten, damit sie nicht verloren gehen. Mir ist aufgefallen, dass im Familien- und Freundeskreis oft über die Erlebnisse im Krieg gesprochen wird. Diese Geschichten werden jedoch immer unter sich erzählt", sagt die Autorin.

In Österreich lebend

Ihre Protagonistinnen und Protagonisten leben mittlerweile in Österreich, viele von ihnen schwiegen über ihre Kriegserlebnisse, manch ein Trauma wurde nach der Ankunft in Österreich einfach verdrängt und nie wieder aufgearbeitet: "Einige von hier erzählten Schicksalen fand ich auf Anhieb interessant, einige fand ich durch den bekannten Schneeball-Effekt", erklärt die bosnischstämmige Journalistin ihr Auswahlprinzip. Für sie war der Schmerz, den diese Menschen nach dem Krieg immer noch spüren, jedoch ausschlaggebend: "Sie leben und arbeiten in Österreich und haben, ohne jegliche Aufarbeitung der Ereignisse, sich hier ein neues Leben aufgebaut", so Begić.

Ihre Zeitzeugen sprechen über Ereignisse, die sie schnellstmöglich überleben und oft verdrängen wollten. "Was mich überrascht hat, waren die Einstiegssätze der Erzählerinnen. Fast alle haben damit begonnen, dass sie ‚nichts so Schlimmes‘ im Krieg erlebt hätten. Erst im Laufe der Interviews kamen Sachen hervor, die die Betroffenen offensichtlich nicht verarbeitet haben", erzählt Begić von der Arbeit am Buch. Beim Schreiben des Buches kamen der Autorin oft Tränen auf: So eindrucksvoll waren die Geschichten, so groß der Schmerz. Denn ihre Protagonisten sind nicht nur Menschen, die einen brutalen Krieg hautnah erleben, sondern sich auch innerhalb kurzer Zeit in einem fremden Land zurechtfinden mussten. Dass dabei jahrelang viel unausgesprochen blieb, liegt auf der Hand. Vielleicht sind gerade deshalb manche endlich festgehaltene Kriegserinnerungen immer noch so lebendig und detailreich.

Bosnische Muslime

Begićs Protagonisten im Buch sind ausschließlich muslimische Bosniaken, die bosnisch-herzegowinische Volksgruppe, die im letzten Bosnienkrieg die größten Opfer zu beklagen hat. Für die junge Autorin ist das schwere Schicksal ihres Volkes aus den 1990er Jahren ein Wachruf gegen den zunehmenden Hass und Hetze, die wir auch in Österreich miterleben: "Hetze und Hass gegen eine Bevölkerungsgruppe enden meistens fatal. Sucht man nur nach Argumenten, um seine Vorurteile zu untermauern, verschließt man Türen für ein friedliches Miteinander", sagt Begić. Denn von Hetzparolen bis zum Töten kann der Weg manchmal sehr kurz sein. Das wissen eben Menschen aus Bosnien-Herzegowina sehr gut. (Nedad Memić, 28.11.2016)