STANDARD: Ein berühmter Ausspruch von Ihnen lautet: "Gutes Design ist so wenig Design wie möglich." Wo fängt das an, und wo hört es auf?
Dieter Rams: Für mich war es immer entscheidend, die Dinge auf das Wesentliche zu reduzieren, um Klarheit zu bekommen. Man darf sich nicht von den Dingen, mit denen man sich umgibt, dominieren lassen. Erwin Braun, der seinerzeit zusammen mit seinem Bruder Artur das Unternehmen Braun geleitet hat, sagte einmal: "Unsere Geräte sollen sein wie ein guter englischer Butler. Sie sollen da sein, wenn man sie braucht, und im Hintergrund verbleiben, wenn man sie nicht braucht." Besser kann man meine Arbeit gar nicht erklären.
STANDARD: Was macht gute Gestaltung noch für Sie aus?
Rams: Natürlich die Selbsterklärungsqualität. Vor allem bei komplexen elektronischen Geräten stellt sich die Frage, warum man häufig noch eine Gebrauchsanweisung zu Hilfe nehmen muss, die meistens auch noch ziemlich umständlich formuliert ist. Darin liegt die Hauptarbeit eines Designers. Design ist in erster Linie ein gedanklicher Prozess, bei dem es um Inhalte statt um Äußerlichkeiten geht. Design hat die Aufgabe, die Funktion verständlich zu machen. Übertriebenes Design ist kein gutes Design. Das hat auch mit Demokratisierung zu tun, da der Aspekt der Repräsentation nicht mehr im Vordergrund steht.
STANDARD: Gestaltung wird heute mehr und mehr vom Marketing bestimmt, das genau in die umgekehrte Richtung zielt: Schnelle Verbrauchszyklen und modische Formen lassen die Dinge schnell alt aussehen und verstärken so den Wunsch nach etwas Neuem. Wie lässt sich "So wenig Design wie möglich" dennoch umsetzen?
Rams: Indem Vertrauen aufgebaut wird. Ich hatte das Glück, sehr früh Unternehmerpersönlichkeiten gefunden zu haben, bei denen ein gegenseitiges Verständnis vorhanden war. Das hat dazu geführt, dass ich mich nicht an die Marketingabteilung oder an die technischen Abteilungen gerichtet habe, sondern direkt an den Unternehmer bzw. später an den Vorstandsvorsitzenden. Der Einfluss oder die Etablierung des Designs innerhalb des Unternehmens an höchster Stelle ist nicht nur wichtig. Es ist die Voraussetzung, damit gutes Design gelingt. Freunde von mir, darunter langjährige Designchefs anderer Unternehmen, haben mir immer wieder erzählt, dass sie Braun als Argument benutzt haben, um ihre Position und damit auch ihren Einfluss im Unternehmen zu stärken. Design sollte immer Chefsache sein.
STANDARD: Die Geräte von Braun haben in all ihrer Klarheit immer auch eine repräsentative Rolle erfüllt: als Statusobjekte des gebildeten Bürgertums. Ist Zurückhaltung nicht auch eine Art von Botschaft?
Rams: Auf der ersten Weltausstellung seit Kriegsende 1958 in Brüssel haben Sep Ruf und Egon Eiermann auf Anraten der Politik den deutschen Pavillon entworfen. Und überall standen die Geräte von Braun wie zuvor schon auf der Interbau in Berlin 1957. Das war natürlich auch eine Botschaft. Indem man auf neues Design gesetzt hat, hat man sich damals – obwohl man sich dessen vielleicht noch gar nicht bewusst gewesen ist – eine neue Identität gegeben. Das ist viel wichtiger, um glaubhaft zu sein, als viel Geld für Werbung auszugeben. Ein Staat muss innerhalb des globalen Wettbewerbs eine eigene Identität vorweisen können. Das ist heute wichtiger denn je. Schließlich sind in der globalen Wirtschaft auch die Länder Unternehmen, die gegenseitig in Konkurrenz zueinanderstehen.
STANDARD: Würden Sie sagen, dass die betont zurückhaltende Formensprache der Braun-Produkte eine typisch deutsche Erfindung war?
Rams: Nein, das würde ich nie sagen. In den skandinavischen Ländern, allen voran Finnland, ist es schon durch die Ausbildung bedingt, dass die Kinder früh an gute Dinge herangeführt werden. Und das spürt man auch, wenn man dort ist. Finnland hat eine gestalterische Identität als Land.
STANDARD: Sie gelten ebenso als ein Bewunderer der japanischen Kultur ...
Das hängt mit meiner zurückhaltenden Auffassung der Dinge zusammen. In gewisser Weise ist sie dem Zen verwandt. Die Japaner haben eine angeborene Empfindung für gute Dinge. Ich hatte 2005 eine Ausstellung in einem alten Zen-Kloster in Kioto. Es war erstaunlich festzustellen, wie Japaner darauf reagierten, als sie meine Entwürfe in dieser Umgebung sahen. Das Verständnis für reduziertes Design ist dort viel stärker ausgeprägt.
STANDARD: Im Zen spielt der Aspekt der Kontemplation eine besondere Rolle. Gilt dies ebenso für das Design?
Rams: Ja, ich habe das vor allem beim Design von Möbeln öfters erlebt. Die Vorstellung ist immer noch nicht gefestigt, mit reduzierten Formen zu leben, obwohl es heute schon aus ökologischen Gründen notwendig wäre. Die Menschen vermissen dann immer die Gemütlichkeit. Wenn man sich ein bisschen mit dem japanischen Zen beschäftigt, versteht man das eher. Die Japaner sind ja auch sehr viel zurückhaltender in ihrer Art.
STANDARD: Sprechen wir über das Design unserer Tage: Worüber regen Sie sich heute am meisten auf?
Rams: Am meisten stören mich diese Beliebigkeitsprodukte, die inzwischen oft den Vornamen "Design" bekommen. Das ist die Spitze des Eisberges. Hinzu kommt, dass sich jeder Designer nennen darf. Es gibt heute Hairdesigner, Naildesigner und was sonst noch. Der Begriff Design ist unglaublich ausgefranst. Ich bedauere das sehr, weil das unseren so wichtigen Beruf verwässert. Denn unsere Umwelt, vor allem die visuelle Verschmutzung der Umwelt, ist ein wichtiges und ernsthaftes Anliegen.
STANDARD: Sollte die Berufsbezeichnung Designer nicht ebenso geschützt werden wie zum Beispiel die des Architekten?
Rams: Ja vielleicht, das wäre dann eine Sache der Verbände. Aber ich glaube, dass das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Das kann man wohl auch nicht mehr herausziehen. Ich finde das äußerst schade. Im Englischen ist dieser Begriff, der ja vom Lateinischen "designare" kommt, durchaus richtig übersetzt. Im Deutschen ließe er sich höchstens mit Gestaltung übersetzen. Aber wenn man ihn international gebraucht, landet man wieder beim Begriff Design. In unserer globalisierten Welt ist es schwierig, solche Dinge zu bereinigen. Dass das Wort Design in letzter Zeit derart stark strapaziert wurde, ist mehr als bedauerlich.
STANDARD: Reduzierte Formen sind mit den Produkten von Apple nicht nur in den Alltag zurückgekehrt. Sie feiern auch beachtliche kommerzielle Erfolge. Wie schauen Sie auf diese Entwicklung?
Rams: Es freut mich natürlich, dass Tendenzen in dieselbe Richtung gehen, die ich mein ganzes Berufsleben über verfolgt habe. Gerade das enge Verhältnis, das bei Apple zwischen dem Designer Jonathan Ive und der Unternehmerpersönlichkeit von Steve Jobs bestand, hat mich stark an meine Anfänge bei Braun erinnert. Es gibt auch andere Designer, die ähnlich arbeiten, wie Jasper Morrison oder Naoto Fukasawa. Letzterer hat mit Muji etwas, wovon wir damals bei Braun nur träumen konnten: nämlich eigene Geschäfte, mit denen er eine breite Masse erreichen kann. Dennoch können Sie gutes Design an zehn Fingern abzählen. Daran hat sich bis heute leider wenig geändert.
STANDARD: Heute wie damals sind zurückhaltende Produkte im Widerspruch gefangen, deutlich teurer zu sein als der verspielte Nippes ...
Rams: Das hängt damit zusammen, dass minimalistisches Design noch immer nicht die Masse erreicht. Da es in geringeren Auflagen produziert wird, ist es natürlich automatisch teurer. Massenprodukte müssen wahrscheinlich ganz anders sein als eben diejenigen Produkte, die nicht für die breite Masse gemacht werden. Ob die Masse jemals umzuerziehen ist? Gute Frage! Ich habe zu meinen Studenten immer wieder gesagt: "Nehmt euch für eure Einrichtung lieber erst einmal Margarinekisten, die braucht ihr nicht zu kaufen. Dann spart auf eine gute Sache, die ihr dann das ganze Leben behalten könnt." Auch hier gilt das Motto: Weniger, aber besser. Die Frage lautet also: Wie kann die Menschheit lernfähiger werden?
STANDARD: Wie sähe denn eine Lösung Ihrer Meinung nach aus?
Rams: Das Design hat noch immer nicht den notwendigen Status in der Bildung, damit es bewusster von den Menschen wahrgenommen wird. Aber dieser Umstand ist nicht nur allein auf dem Gebiet des Alltagsdesigns oder der Architektur zu beobachten, sondern ebenso in der Musik oder in der Malerei. Aspekte, die das kulturelle Zusammenleben betreffen, fehlen völlig. Es müsste im Grunde genommen weltweit eine Reform der Ausbildung stattfinden. Wenn nicht, werden wir in der Architektur und im Design nach wie vor nur auf kleiner Flamme köcheln. (Norman Kietzmann, RONDO, 2.12.2016)