In manchen Straßen Bhopals, so die Überlieferung, lagen derart viele Leichen, dass man gar nicht anders konnte, als auf sie zu treten. Und die meisten jener, die es gerade noch in eines der Spitäler schafften, hofften vergeblich auf Genesung. Denn die Ärzte wussten nicht, womit sie es zu tun hatten – was genau die Augen, die Häute und Schleimhäute zerfraß und sich schließlich auch die inneren Organe vornahm. Der Verursacher nämlich, der US-Chemiekonzern Union Carbide, wollte anfangs partout nicht verraten, welches Giftgas den Weg ins Freie gefunden hatte. Das sei schließlich ein "Handelsgeheimnis".

Es ist bei weitem nicht das einzige Fehlverhalten rund um die größte Chemiekatastrophe aller Zeiten, die sich vor genau 32 Jahren im indischen Bhopal ereignete und, je nach Lesart, 15.000 bis 30.000 Todesopfer forderte. Bereits Jahre vor der verhängnisvollen Nacht vom 2. auf den 3. Dezember 1984 wurden Entscheidungen getroffen, die den folgenschweren Unfall begünstigten. Eine wichtige Rolle dabei spielte Warren M. Anderson, 1921 in Brooklyn geborener Sohn schwedischer Einwanderer, der sich bei Union Carbide vom Vertreter bis zum Präsidenten und CEO hocharbeitete.

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4. Dezember 1984: Trauer um ein Todesopfer der Katastrophe von Bhopal.
Foto: AP Photo/Sondeep Shankar

Union Carbide war in den 1970er-Jahren der zweitgrößte Chemiekonzern der USA mit dem Kerngeschäft Kunststoffe und Chemikalien. Zu hoher Schwefeldioxidausstoß von Fabriken in den Vereinigten Staaten bescherte Union Carbide zu jener Zeit einen schlechten Ruf. Als Anderson 1979 das Kommando übernahm, steigerte er die Produktivität und die Verkäufe und sorgte dafür, dass das Unternehmen langsam, aber doch seinen Ruf als Umweltverschmutzer abschüttelte.

Der Stolz der Stadt

Zwei Jahre zuvor nahm Union Carbide India Limited (UCIL) eine Fabrik im Stadtteil JP Nagar von Bhopal – einem Elendsviertel – in Betrieb, um dort das Schädlingsbekämpfungsmittel Sevin zu produzieren. Das Unternehmen gehörte zu 50,9 Prozent Union Carbide und der Rest dem indischen Staat, privaten Investoren und Finanzinstituten.

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Männer in Bhopal tragen ihre verletzten Kinder ins Krankenhaus.
Foto: AP Photo/Sondeep Shankar

In der Hauptstadt des Bundesstaats Madhya Pradesh war innerhalb von 20 Jahren die Bevölkerung von etwa 100.000 auf knapp 700.000 Menschen angewachsen. Es gab also billige Arbeitskräfte en masse. Und wer es in die Pestizidfabrik schaffte, der galt als jemand in Bhopal, der hatte es zu etwas gebracht. Das Werk war der ganze Stolz der Stadt.

Doch die Zahlen, die die Firmenzentrale in den USA in den folgenden Jahren aus Bhopal erreichten, waren enttäuschend. Eigentlich wollte man von der in Indien gestarteten "grünen Revolution" profitieren, doch eine Serie verheerender Monsune und Missernten sorgte Anfang der 1980er-Jahre für stagnierende Absätze.

Die Folge waren zahlreiche Sparmaßnahmen: Bis 1984 wurde das Personal in Bhopal halbiert, sodass sich etwa ein einzelner Arbeiter im Kontrollraum um rund 70 Messanzeigen zu kümmern hatte. Wartungsintervalle wurden gestreckt, billige Ersatzteile verwendet und das Sicherheitstraining von sechs Monaten auf zwei Wochen gekürzt. Dabei wurden viele Inhalte auf Englisch kommuniziert, was die einheimischen Arbeiter nicht verstanden.

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Überlebende, deren Augen verbunden wurden.
Foto: Reuters/RAGHU RAI

1982 förderte eine von US-Experten durchgeführte Überprüfung des Werks in Bhopal 61 Sicherheitsmängel zutage, 30 davon äußerst kritisch und elf davon in jenem Bereich, in dem mit der hochgiftigen chemischen Verbindung Methylisocyanat (MIC) gearbeitet wurde – bereits wenige Tropfen können tödlich sein. Eindeutiges Fazit der Überprüfung: Es droht ein massiver Giftgasaustritt.

Verbesserungen nur in den USA

Diese Warnung erreichte auch die Spitze von Union Carbide – und Warren Anderson reagierte. Doch anstatt die Gefahrenherde im Werk in Bhopal, das nicht unter seiner direkten Kontrolle statt, beseitigen zu lassen, ordnete er dies in einem identischen Werk von Union Carbide in den USA in West Virginia an.

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Kurz nach der Katastrophe: Feuerwehrmänner bespritzen das Werk, um einen weiteren Gasaustritt zu verhindern.
Foto: AP Photo/Peter Kemp

Zweifellos hätte also das, was sich etwa zwei Jahre später ereignet, vermieden werden können: Wasser dringt in einen Tank mit MIC ein, Tank 610. Durch diese Verbindung entsteht Kohlenstoffdioxid, deshalb steigt der Druck im Tank auf ein Vielfaches. Es ist 23.30 Uhr am 2. Dezember 1984, als der Vorarbeiter den Druckanstieg bemerkt. Dem misst er aber keine besondere Bedeutung bei, weil die Messinstrumente schon oft falsche Werte angezeigt haben. Gleichzeitig entdecken Arbeiter in der MIC-Anlage ein Leck. Sie riechen Gas, ihre Augen tränen. Sie informieren den Vorarbeiter – er will sich das Leck nach der Teepause ansehen.

0.15 Uhr: Die Teepause beginnt.

0.35 Uhr: Die Teepause endet.

Als der Vorarbeiter das Leck inspizieren will, ist der Druck in Tank 610 bereits so groß, dass sich die Überdruckventile öffnen und Gase – letztlich sind es insgesamt 24 Tonnen MIC und mindestens zwölf Tonnen weiterer Chemikalien – entweichen. Jeder Versuch, die Katastrophe noch zu verhindern, scheitert. Herbeigeeilte Feuerwehrmänner öffnen sämtliche Hydranten, um die MIC-Anlage in einen Wasservorhang zu hüllen – doch die Wassserfontänen sind mit 30 Metern zu niedrig.

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3. Dezember 2014: Am 30. Jahrestag der Katastrophe wird bei Gedenkfeiern in Indien Gerechtigkeit gefordert.
Foto: EPA/JAGADEESH NV

Auch der Versuch, das entweichte MIC mit Natriumhydroxid zu neutralisieren, scheitert. Der stellvertretende Betriebsleiter ordnet dann an, das Gas abzufackeln. Doch die Abfackelanlage steht zu diesem Zeitpunkt still. Es ist schließlich 3 Uhr früh, als der Betriebsleiter vor Ort auftaucht und die Polizei von Bhopal über das Unglück zu verständigen versucht. Aber die Telefone sind defekt. Notgedrungen schickt er einen Arbeiter zur Polizeistation, während eine Giftgaswolke dicht über dem Boden in die Stadt strömt.

Union Carbide spricht von Sabotage

Was genau nun zu der Katastrophe geführt hat, ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Rann das Wasser durch ein Leck in den MIC-Tank, haben Arbeiter eine Wasser- mit einer Stickstoffleitung verwechselt, oder war es gar Sabotage? Union Carbide versteifte sich stets auf letztere Variante, würde das doch ihre eigene Verantwortung verringern.

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Einer der Tanks links am Boden ist Tank 610, aus dem das MIC entwichen ist.
Foto: Reuters

Fakt ist auf alle Fälle, dass die Giftgaswolke die Bewohner von Bhopal im Schlaf überraschte. Überlebende werden später berichten, dass MIC – farblos, tränenreizend, stechender Geruch – sich angefühlt hat, als würde man Chilischoten in den Augen haben. Dass sie sich übergaben und Schaum vorm Mund hatten. Bei den zehntausenden anderen, deren Leben aufgrund einer hohen MIC-Dosis ein Ende nahm, schwoll der Körper in kürzester Zeit an, bis sie starben. Viele Opfer fand man mit aufgerissenen Mündern, weil sie flüchten wollten und zwischen Atmen und Erbrechen starben. In den vollkommen überforderten Spitälern konnte vielen anfangs nicht geholfen werden, weil nicht klar war, um welches Gas es sich handelte.

Viele Totgeburten

Insgesamt, heißt es später, sollen rund eine halbe Million Menschen das Gas eingeatmet haben. Auf etwa 100.000 wird die Zahl jener geschätzt, die mit chronischen Krankheiten überlebten: Blindheit, Herz-, Nieren- und Leberschäden, Lähmungen, Hirnschäden, Lungenödeme, Angstzustände, Muskelschwäche, Zittern, Unfruchtbarkeit. Jede vierte Geburt in Bhopal, sagen Opferbetreuer auch heute noch, sei eine Totgeburt. Zudem werden überdurchschnittlich viele behinderte Babys geboren.

NBC-Nachrichtensendung vom 3. Dezember 1984 zum Unglück in Bhopal. Zu diesem Zeitpunkt war noch von etwas mehr als 2.000 Todesopfern die Rede.
nbcuarchives

Genaue Zahlen über die Folgen liegen nicht vor. Eine große indische Studie darüber wurde 1994 abgebrochen, die Ergebnisse nie veröffentlicht. Das ist symptomatisch für die Aufarbeitung der Katastrophe von Bhopal, die hauptsächlich aus Ducken, Dementieren und Verweigern bestand.

"Flüchtiger" Warren Anderson

Dabei zeigte just Warren Anderson anfangs noch Anstand, weil er vier Tage nach dem Unglück das Werk in Bhopal besuchte. Die indische Polizei nahm ihn sofort fest, nach einem dreistündigen Verhör wurde er aber gegen eine Kaution von 25.000 Rupien (damals rund 2.400 US-Dollar) wieder freigelassen. Mit einem Privatflugzeug reiste er sofort zurück in die USA – und setzte bis zu seinem Tod im September 2014 nie wieder einen Fuß auf indischen Boden. Die indische Regierung ließ ihn mit einem internationalen Haftbefehl suchen und gab ihm den offiziellen Status "Flüchtiger" – doch die USA kamen keinem der zahlreichen Auslieferungsgesuche nach.

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An einer Mauer des Werks in Bhopal wird der Hass auf Warren Anderson deutlich.
Foto: EPA/HARISH TYAGI

Juristisch betrachtet ist es ein Kampf, der auch heute noch andauert. Union Carbide und die indische Regierung einigten sich 1989 in einem außergerichtlichen Vergleich auf Entschädigungszahlungen von 470 Millionen Dollar. Kritiker meinen, Indien habe sich auf diesen Deal eingelassen, um ausländische Konzerne nicht zu verschrecken. Und vieles von dem Geld versickerte in Politik und Verwaltung. Manche sagen, die Hälfte aus dem Entschädigungsfonds sei gar nicht ausgezahlt worden. Oder dass Personen, die zwar nicht in Bhopal wohnten, dafür aber gute Beziehungen hatten, viel Geld erhielten. Im Gegensatz zu Opfern mit schweren Behinderungen, die entweder gar nichts oder umgerechnet nur wenige hunderte Dollar bekamen – eine Summe, mit der man gerade einmal die Medikamente für wenige Monate bezahlen konnte.

Immer wieder Prozesse

2010, also mehr als 25 Jahre später, hat ein indisches Gericht Manager und Techniker der Betreiberfirma UCIL wegen fahrlässiger Tötung zu jeweils zwei Jahren Haft auf Bewährung und einer Geldstrafe von damals umgerechnet 2.100 US-Dollar verurteilt. Immer wieder kommt es aber zu Prozessen – in den USA gegen Union Carbide und in Indien unter anderem auch gegen die Behörden. Jedoch ohne Erfolg.

ARD-Bericht zum 30. Jahrestag am 3. Dezember 2014.
ARD Mittagsmagazin

Union Carbide wurde 2001 von Dow Chemical aufgekauft. Der Chemiekonzern beharrt darauf, dass mit der Entschädigungszahlung die Angelegenheit für ihn abgeschlossen ist. Und überhaupt: Die Fabrik in Bhopal wurde von Indern in Indien errichtet und sei auch von Indern betrieben worden, sagte ein Unternehmenssprecher.

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In dem Werk stehen weiterhin zahlreiche Flaschen. Der Inhalt ist unklar.
Foto: REUTERS/DANISH SIDDIQUI

Viele sehen das anders, vor allem jene in Bhopal, die weiterhin unter der Katastrophe und noch einem anderen Erbe von Union Carbide zu leiden haben. Denn bereits vor 1984 hat das Werk die Abfälle einfach ungeschützt ausgekippt. Schwermetalle, Arsen, Benzole, die dann ins Grundwasser drangen. Rund um das Gelände in dem Armenviertel fanden Umweltschützer Spuren von Chemikalien im Boden, im Gemüse, sogar in der Milch stillender Mütter. Einer Studie zufolge sind insgesamt 11.000 Tonnen Erdboden verseucht.

Kinder spielen auf dem Werksgelände

Bis heute leiden dort viele unter Atemnot, Hautausschlägen und Nierenbeschwerden. Die Rechtfertigung von Union Carbide: Nach 1984 habe man mit der Säuberung des Geländes begonnen, doch der Pachtvertrag für das Gelände lief 1998 aus, seither sei der Bundesstaat Madhya Pradesh verantwortlich. Der sieht das natürlich anders und bleibt tatenlos. Die Folge ist ein weiterhin hochgiftiges Werksgelände, auf dem sich regelmäßig Kinder tummeln und spielen, obwohl der Zutritt eigentlich verboten ist. Oder Kühe und Ziegen grasen. Und niemand schreitet ein.

Auch zu sehen sind Warnschilder: "Kein Trinkwasser". Doch das saubere Wasser, das die Stadt mit Altlastern ins Armenviertel rund um das Fabriksgelände schickt, reicht bei weitem nicht aus. Es bleibt also keine andere Wahl, als das kontaminierte Grundwasser zu trinken.

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Das Werksgelände, wo heute oft Kinder spielen.
Foto: REUTERS/DANISH SIDDIQUI

Was die Versorgung der Opfer von 1984 betrifft, so wurden zumindest mehrere Spitäler gebaut, um sie betreuen. Zeitweise finden sich an einem Tag an die 1.000 Menschen in den Krankenhäusern ein, um die Folgen der Katastrophe behandeln zu lassen. Hilfsorganisationen kritisieren aber, dass die Ausstattung der Spitäler vollkommen veraltet sei und die Gasopfer gar nicht systematisch erfasst würden, um dadurch eine ausreichende Versorgung zu gewährleisten.

Zumindest ein kleiner, ein sehr kleiner Trost bleibt: Dow Chemical kann in Indien nicht so richtig Fuß fassen, keine größeren Investitionen tätigen. Zeitungen lehnen Inserate ab, Universitäten untersagen dem Konzern, auf dem Campus Mitarbeiter anzuwerben. Indien hat nicht vergessen. (Kim Son Hoang, 3.12.2016)