Musik – wie hier von den Wiener Philharmonikern beim Neujahrskonzert – aktiviert weitverzweigte neuronale Netze und kann neue Nervenbahnen bilden und stabilisieren.

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Krems – Wenn wir Musik hören oder selbst musizieren, werden im Gehirn weitverzweigte neuronale Netzwerke aktiviert. Damit werden Mechanismen in Gang gesetzt, die für die Bildung und Stabilisierung neuer Nervenverbindungen sorgen. Beim gemeinsamen Musizieren bilden sich sogar hirnübergreifende neuronale Netzwerke aus, wie Wissenschafter vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin nachweisen konnten.

Diese positive Wirkung macht sich die Musiktherapie unter anderem in der Neurorehabilitation zunutze. "Musiktherapie ist eine an den Bedürfnissen der Patienten orientierte Therapieform, die sie körperlich aktivieren oder entspannen kann, bei der psychischen Krankheitsbewältigung unterstützt und auch die sozial-kommunikativen Fähigkeiten fördert", erläutert der Musiktherapeut und Anthropologe Gerhard Tucek. Er hat vor einigen Jahren den Studiengang Musiktherapie an der IMC-Fachhochschule Krems aufgebaut. Im Rahmen seiner Lehrtätigkeit stieß er in den Arbeitsprotokollen der Studierenden auf ein Phänomen, das man als "Resonanzerfahrung" bezeichnet: der Augenblick, in dem Patient und Therapeut miteinander in Kontakt treten.

Ermittlung passender Zeitfenster

"Auch ich habe diese Resonanzerfahrung in den vielen Jahren meiner therapeutischen Tätigkeit in verschiedenen Kliniken oft gemacht", sagt Tucek. "Jeder, der in der Neurorehabilitation arbeitet, weiß, wie wichtig diese Augenblicke und Phasen der Resonanz für den Therapiefortschritt sind." Es geht also um bestimmte Tageszeiten, Zeitpunkte und Zeitspannen im Therapieverlauf, in welchen ein Patient besonders therapiebereit ist. Die für den jeweiligen Patienten passenden Zeitfenster zu ermitteln und den therapeutischen Ablauf darauf abzustimmen ist für den Therapieerfolg essenziell. Allerdings nimmt der aktuelle Klinikalltag darauf keine Rücksicht, und die Resonanzerfahrungen werden von Ärzten nicht selten als unwesentlich beiseitegeschoben.

Aber lässt sich ein hochsubjektives Empfinden überhaupt in messbare Kategorien bringen? Gerhard Tucek ist davon überzeugt, dass diesem psychologischen Geschehen ein physiologisches Korrelat entspricht und man darauf aufbauend die wissenschaftliche Basis für eine am einzelnen Patienten orientierte Musiktherapie schaffen kann. Am neuen Josef-Ressel-Zentrum an der IMC-Fachhochschule Krems soll genau das geschehen.

1,7 Millionen Euro werden dafür vom Wissenschafts- und Wirtschaftsministerium sowie von den beteiligten Unternehmen, der Niederösterreichischen Landeskliniken-Holding und der S-Team IT Solutions GmbH, aufgewendet. Als Forschungspartner sind die FH St. Pölten, die FH Gesundheit Tirol und die Anglia Ruskin University in Cambridge beteiligt.

Damit bekommt ein internationales Forscherteam unter der Leitung von Gerhard Tucek die Möglichkeit, in den nächsten fünf Jahren Themen wie "der richtige Zeitraum und der richtige Zeitpunkt" oder "Empathie" in Zusammenhang mit der Therapie von Schlaganfallpatienten auf wissenschaftliche Beine zu stellen.

Im Mittelpunkt stehen dabei also die Momente der Begegnung zwischen Patient und Therapeut. Über deren genaue Erfassung und Analyse wollen die Forscher Modelle entwickeln, mit denen sich die optimalen Therapiezeiträume und -zeitpunkte individuell für jeden Patienten ermitteln lassen.

Musik macht aktiver

Tucek erläutert, wie man solche Resonanzerfahrungen in messbare Daten übersetzen kann: "Wir haben bereits eine entsprechende Studie bei Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma durchgeführt, in der untersucht wurde, wie sich die Kommunikationsform über einen bestimmten Zeitraum entwickelt." Dabei hat man gesehen, dass selbst bei einer dreißigprozentigen Zunahme der Hirnaktivität durch Musiktherapie die Verhaltensoberfläche je nach Patient unterschiedlich sein kann. Während sich der eine besser entspannt, wird der andere durch die Musik aktiver.

Im neuen Ressel-Zentrum werden sich elf Mitarbeiter aus unterschiedlichen Fachbereichen in den beiden nächsten Jahren vor allem auf die Methodenentwicklung konzentrieren. "Wir greifen dabei unter anderem auf eine bereits abgeschlossene Pilotstudie mit Schlaganfallpatienten zurück, außerdem werden weitere Patientenstudien mit Positronen-Emissions-Tomografie und Videografie durchgeführt", berichtet Gerhard Tucek. Nach zwei Jahren werden die Ergebnisse einem Peer-Review-Prozess unterzogen, nach dem dritten Jahr sollen sie in die klinische Praxis integriert werden. "Leider", so der Zentrumsleiter, "wird in der Ausbildung bei Gesundheitsberufen nach wie vor viel zu wenig Gewicht auf die Kommunikation mit dem Patienten gelegt." Und das, obwohl man wisse, dass die funktionale Weiterentwicklung eines Patienten wesentlich über emotionale Beteiligung erfolge.

Wer an der FH Krems eine Ausbildung zum Musiktherapeuten anstrebt, muss übrigens nicht nur zwei Instrumente und das musikalische Improvisieren in der Gruppe beherrschen, sondern auch ausreichend soziale Kompetenz mitbringen. (Doris Griesser, 6.12.2016)