In diesem Winter fällt eines ins Auge: die Hände, alle verschwunden. Unter den vielen schlaff herunterhängenden Mänteln und den riesigen Sweatern versanken die Models auf den internationalen Laufstegen bis zu den Fingerspitzen unter Bergen an Textilien. Bei Jil Sander trugen sie gepolsterte Schultern spazieren, die Ärmel überlang, das Label Hood by Air ließ die Ärmel sogar über den Boden schleifen. Aktuell ist Großzügigkeit angesagt. "Zieh dich dick an" – was sich wie ein mütterlicher Ratschlag liest – hat die Mode zum Motto erkoren: Das Thema Oversize ist so präsent wie lange nicht mehr.
Derzeit werden in Paris Labels wie Vetements oder Jaquemus für ihr Spiel mit Volumen und Formen gefeiert. Wirklich neu ist das nicht. "Beim Oversize-Trend handelt es sich ganz klar um eine Retro-Geschichte", erklärt Regina Karner, Leiterin der Modesammlung des Wien-Museums: "Die Schnitte waren alle schon einmal da." Übergroße Pullover, aufgeblasene blousonartige Jacken, Mäntel, deren Schultern weit hinunterreichen, "damit ging es Ende der 1970er los": 1978 breite Schultern bei Yves Saint Laurent, später exaltiertes Power-Dressing bei Gianni Versace, verstörend Voluminöses bei dekonstruktivistischen Designern wie Comme des Garçons und Martin Margiela. In den 1980er-Jahren wurden die losen Schnitte zunehmend von betonten Schultern abgelöst.
Das Formenvokabular von Vetements und Jaquemus ist tatsächlich stark an jenes von Martin Margiela oder Rei Kawakubo angelehnt. Die japanische Designerin hatte mit Comme des Garçons in den 1980er-Jahren die Pariser Mode umgekrempelt – mit einer Mode, die Sexiness nicht in Beinlänge und Brustumfang bemaß. Kawakubo machte Mode, die in die Breite und die Länge ging und den Körper vermeintlich unvorteilhaft in sackartige, zerlöcherte, asymmetrische Kleider verpackte. Was damals als schwarze Moderevolution, als Hiroshima-Chic bezeichnet wurde, hängt heute in abgeschwächter Version bei Modeketten wie Cos auf den Stangen. Was damals als grotesk und verstörend galt, ist heute in weite Teile des Mainstreams vorgedrungen.
Über die Fingerspitzen lappende Trompetenärmel, wie sie gerade auf Blogs und in Modemagazinen zu sehen sind? "Gab es in den 1860er-Jahren und in den 1930er-Jahren bei eleganten Tageskleidern", so Karner. "Sie waren für die berufstätige Frau aber nicht sehr praktisch." Das ist heute nicht anders. Die Modeindustrie gibt sich dennoch alle Mühe, Trompetenärmel als praktikabel zu verkaufen: Das Magazin Cosmopolitan erklärt, in den überlangen Ärmeln könnte man "auch mal die Hände verschwinden lassen, wenn die Kälte kommt". Tatsächlich verheddern sich die Ärmel bereits beim Tippen in der Tastatur.
Schützend und nostalgisch
Praktikable Gründe sind es nicht, die für Kleidungsstücke im XXL-Format sprechen: "Die weiten Silhouetten sind einerseits ein Rückgriff auf vergangene Modedekaden, sie vermitteln aber auch etwas Schützendes, etwas Nostalgisches", meint die Kulturwissenschafterin Mahret Kupka, Modekuratorin am Museum für angewandte Kunst in Frankfurt. Die weit geschnittenen, bis zum Knöchel reichenden Mäntel beispielsweise, die junge Frauen schon einige Winter lang so gerne über ihren Skinnys tragen, erinnern an Mantel- und Jackenformen, die ihre Mütter Ende der 1980er, Anfang der 1990er getragen haben.
"Oversize-Schnitte haben immer etwas Verschwenderisches", erklärt Kupka. Aus den riesigen Steppjacken eines Raf Simons könne man drei Jacken in Normalgröße herstellen. Überhaupt führten Funktionsmaterialien die Steppjacke in Oversize-Optik ad absurdum: Heute könne man sich selbst mit den dünnsten Jacken warmhalten. Warum aber kommen die weiten Formen trotzdem so gut an?
Die Kostümhistorikerin Ingrid Loschek beschreibt "Oversize" in ihrem Modelexikon als "körperverneinenden Stil". Tatsächlich lassen sich die übergroß geschnittenen Kleidungsstücke auf den ersten Blick als Verweigerungshaltung interpretieren: Endlich geht es mal nicht um die Inszenierung des fitten, dünnen Körpers. Bretterharte Bäuche, die Lücke zwischen den Oberschenkeln, die trainierten Oberarme verschwinden unter der textilen Last des Volumens, das den Oberkörper umspielt.
Und so erinnern die dünnen Models bei Vetements oder Stella McCartney in ihren viel zu großen Sweatern und Jacken an verunsicherte Teenager, die ihre heranwachsenden Körper in XXL-T-Shirts und Kapuzenpullovern versenken. Dass aktuelle Oversize-Elemente als lässig gelten, haben sie ihrer Verwurzelung in der Hip-Hop-Kultur der 1990er-Jahre zu verdanken. Michael Paul vom Wiener Streetwear-Spezialisten Stil-Laden: "In den frühen 1990er-Jahren sind die breiten, bis in die Kniekehlen hängenden Hosen von New Deal, Blind und Dickies in die Skateboard-Szene geschwappt" – und dann im Mainstream gelandet. Dicke Hose bewiesen damals nicht nur die Männer. Musikerinnen wie TLC trugen Baggyhosen über Boxershorts und dazu enge Oberteile.
Volumen am Oberkörper
Auch aktuell beobachtet Paul, dass im Streetwear-Bereich die Hosen wieder an Breite gewinnen. Kupka ist dennoch überzeugt: "Das Volumen spielt sich vor allem am Oberkörper ab." Dass der Oversize-Trend den schlanken Idealkörper ablehnt, glaubt sie nicht: "Dieser Trend ist auf den schlanken Körper ausgerichtet, er wird durch das Mehr an Stoff sogar hervorgehoben."
Nur wenn aus dem Berg an Textilien dünne Beine hervorschauten, gelte Oversize als attraktiv. Man könne den Trend auch als sarkastischen Kommentar lesen, meint die Kulturwissenschafterin, getreu dem Motto: "Die Dünnen eignen sich die "Übergrößen" an und sehen auch noch besser darin aus." Mit echten Übergrößen hat der Oversize-Trend sowieso wenig zu tun. Pullover haben viel zu lange Ärmel, die Säume der Bomberjacken baumeln in den Kniekehlen – einzelne Kleiderbestandteile werden bis ins Groteske überzeichnet. Diese Mode ist nicht zwangsläufig auf die Bedürfnisse großer Größen ausgerichtet.
Als besonders vorteilhaft gelten die weiten Schnitte dennoch nicht – die New Yorker Bloggerin Leandra Medine bezeichnet weit geschnittene Kleidungsstücke als "Manrepeller", als abschreckend für das andere Geschlecht. Vielleicht ist dieser zweifelhafte Ruf Grund genug, die aufgeblasenen Pullover, die zeltartigen Mäntel, die überdimensionierten Bomberjacken zur Skinny-Jeans zu tragen.
Dass diese sich als schmales Gegenstück zum großzügigen Obendrüber hält, hat auch praktische Gründe. In den letzten Jahren hat die schmale Hose bewiesen, dass sie mit dem XXL-Partner bestens harmoniert. Skinnys lassen sich in Stiefel stecken, sie lassen die weibliche Silhouette nicht im Textil versacken. Der gesamte Kleiderschrank scheint um sie herum konstruiert: "Weite Hosenformen wie jene der Culotte erscheinen wie ein netter Ausflug, sie markieren aber nicht das Ende der schmal geschnittenen Hose", meint Kupka. Für die Boot-Cut-Hose und die luftig sitzende Baggy müsste der gesamte Kleiderkasten umgestellt werden. So weit geht die aktuelle Oversize-Liebe nicht. (Anne Feldkamp, RONDO, 2.12.2016)