
Im entscheidenden Augenblick muss man sich auf sich selbst verlassen können, um auch für andere das Richtige zu tun: Chesley Sullenberger (Tom Hanks) bewahrt in "Sully" Haltung.
Wien – Ein solches Ende kann man sich nur wünschen. Alles andere wäre ein Albtraum – so wie er Chesley Sullenberger verfolgt. Statt der glücklichen Notwasserung auf dem Hudson River kracht der von ihm gesteuerte Airbus mit einem Feuerball in die Skyline von Manhattan. Dann ist er nicht jener Held, der 155 Menschenleben gerettet hat, sondern der Pilot einer Todesmaschine. Die Bilder, mit denen Sully beginnt, sind in ihrer doppelten Fiktion nicht nur der böse Traum eines Piloten, sondern ein ebensolcher der kollektiven Erinnerung.
Alles verläuft ruhig in den ersten Minuten des Fluges 1549 am 15. Jänner 2009 von New York nach Seattle. Auch als ein Vogelschlag beide Triebwerke ausfallen lässt, bleiben die Männer im Cockpit erstaunlich gelassen. Der Co-Pilot zückt ein Handbuch, Knöpfe werden gedrückt, die Flugsicherung wird darüber informiert, dass man nach LaGuardia zurückkehren werde, die Flugbegleiterinnen erteilen rasch und streng Befehle. Die Passagiere ziehen die Köpfe ein, Sullenbergs Blick ist ruhig nach vorne gerichtet. Panik und Katastrophenfilme sehen anders aus. Beide sind keine Angelegenheit von Clint Eastwood.
Wenn alle Fluggäste schließlich bei klirrender Kälte mitten auf dem Wasser auf den Tragflächen stehen, so wie es damals auf den Fernsehbildern zu sehen war, hat Sully den Moment der absoluten Entschleunigung erreicht. Hier gibt es keine aufbauschende Musik, die Spannung suggeriert, keine dramatische Rettungsaktion oder gar Hilfe in letzter Minute, sondern einen geordneten Rückzug – das Wasser in der Maschine steigt langsam, aber sicher -, den Eastwood ebenso bedächtig und konzentriert inszeniert. Was deshalb von Bedeutung ist, weil Eastwood mit seinem Helden noch etwas vorhat, wofür dieser und sein Film ein ruhiges Gewissen brauchen: Sully (Tom Hanks) und sein Co-Pilot Jeff Skiles (Aron Eckhardt) müssen zum Verhör. Sich dafür verantworten, dass sie anderen das Leben gerettet haben.
Eigene Entscheidung
Das wiederum gestattet Sully, basierend auf der von Sullenberger – gemeinsam mit dem vor vier Jahren verstorbenen Journalisten Jeff Zaslow – verfassten Autobiografie Highest Duty – My Search For What Really Matters, seinen Fokus auf das zu richten, was ihn als einen Film von Eastwood unverwechselbar macht: Auf welche Werte es im Leben ankommt lautet der Untertitel der deutschen Übersetzung von Sullenbergers Buch, und natürlich sind das exakt jene Werte, auf die es auch Eastwood seit Jahrzehnten nicht nur im Kino ankommt: Verantwortung auch für andere zu übernehmen. Und für Entscheidungen geradestehen.
Wenn wir die Regeln befolgt hätten, wären wir jetzt tot, wissen die Piloten das Risiko auch im Nachhinein genau einzuschätzen. Die Regeln hätten verlangt, nach dem Lehrplan vorzugehen. Doch die Bürokratie hat dieses Land in den Augen Eastwoods, dieses ewig widerständischen Konservativen, nicht groß gemacht.
Nichts wäre einfacher gewesen, als aus diesem Stoff eine Heldengeschichte zu formen, und umso erstaunlicher mutet der Umstand an, wie beharrlich Sully sich gegen eine solche sträubt. Doch nur auf den ersten Blick, denn die überlebensgroßen Heldenfiguren Eastwoods hat es ohnehin nie gegeben, und auch Chesley Sullenberger ist alles andere als ein solcher: "We did our job."
Menschlicher Faktor
Sully ist ein Film von großer Beharrlichkeit, der es wie auch Sullenberger versteht, eine eigene Lösung zu finden, die Genreregeln hinter sich zu lassen und den Blick auf das Menschliche freizulegen. Der "human factor" sei eben nicht einzuberechnen, meint Sullenberger vor der Untersuchungskommission, die dem – exakt reinszenierten – Auftritt bei David Letterman folgt. In Momenten wie diesem erinnert Sully an The Flags of Our Fathers, in dem die Helden von Iwo Jima dem Showbusiness überlassen werden. Dabei ist es doch gerade der menschliche Faktor und die Überzeugung, das Richtige zu tun, worauf man sich bei Eastwood verlassen sollte.
Dass dieser mit seiner Wahlempfehlung für Donald Trump zuletzt für einiges Unverständnis sorgte, macht Sully natürlich weder zu einem besseren noch zu einem schlechteren Film. Aber zu einer Arbeit, wie Eastwood sagen würde, die das Lob auf den notwendigen Widerstand gegen eine regulierende Norm – hier gegen ein Establishment der untersuchenden Versicherung – noch deutlicher macht. Und Eastwood hat zumindest bei Sullenberger recht behalten: An diesem Tag hat er das Richtige getan. Alles andere ist reine Flugsimulation. Ob man dann ein Held sein will, kann man sich später immer noch aussuchen. (Michael Pekler, 1.12.2016)