Bei der aufsuchenden Jugendarbeit im 20. Wiener Gemeindebezirk begegnet Fabian Reicher Jugendlichen mit ganz unterschiedlichen Problemlagen. Auch einen jungen Mann, der wegen der IS-Propaganda bereits nach Syrien reisen wollte, betreute der Sozialarbeiter. Der Hype um den "Pop-Jihadismus" sei aber vorüber, sagt Reicher. Gefährlich werden Fanatisierungsprozesse, wenn die Jugendlichen sich nur noch auf ein Thema beziehen und den Kontakt mit Freunden und Familie abbrechen. Dann setzt die Jugendarbeit an und zeigt den Jugendlichen andere Möglichkeiten auf, sich zu engagieren.

STANDARD: Wie geht man als Sozialarbeiter damit um, wenn Jugendliche mit Extremismus in Verbindung gekommen sind?

Reicher: Es ist in der Jugendphase im Prozess der Identitätsentwicklung durchaus normal, dass man mit Extremen sympathisiert und extreme Positionen einnimmt. Das kann verschiedene Ausprägungen haben wie Extremsport, experimentellen Konsum von Alkohol – das ist in der Jugendphase normal. Deshalb sagen wir dazu "Jugendliche, die mit Extremismus sympathisieren". Das Weltbild von Jugendlichen ist kein geschlossenes. Sie müssen ihren Selbstwert erst stabilisieren. Das passiert häufig über die Abwertung von anderen oder Gruppen.

STANDARD: Das heißt, es ist teilweise eine Form der Provokation?

Reicher: Ja. Diese Provokationen sind auch ernst zu nehmen. Es steht ein Bedürfnis dahinter. Entweder ein Bedürfnis nach Aufmerksamkeit oder nach Grenzen. Da braucht es Erwachsene, die sich gegen diese extremistischen oder abwertenden Themen positionieren und das auch begründen. Wir treten mit den Jugendlichen in Diskurs und haben da eine klassische Reibebaumfunktion. Wichtig ist, in die Beziehung reinzugehen mit den eigenen Werten und Normen. Das ist, was Jugendliche extrem interessiert. Wie wollen wir gemeinsam Leben? Was sind deine Werte? Es gibt nichts Spannenderes für die Jugendlichen, als mich zu fragen, wie ich mein Leben lebe.

STANDARD: Wann geht es über eine jugendliche Provokation hinaus?

Reicher: Gefährlich werden solche Fanatisierungsprozesse bei der Verengung des Blickwinkels. Wenn sich der Jugendliche in seiner Identität nur noch auf eine Sache bezieht, wird es problematisch. Wenn sie den Kontakt zu ihren Freunden, die nicht in der extremen Szene sind, abbrechen, nicht mehr mit den Eltern reden, nicht mehr zum Fußballverein gehen. Solche Veränderungen muss man immer ansprechen.

Fabian Reicher setzt Werte und Normen extremistischen Positionen entgegen. Armut, Perspektivlosigkeit und Rassismus würden junge Menschen anfällig für Sektierer und Propagandisten machen, sagt Reicher.
Foto: Stefanie Ruep

STANDARD: Wo setzt man bei diesen Jugendlichen an?

Reicher: Unsere Methode ist die Bedürfnisorientierung. Jede Ideologie hat viele Angebote, etwa Gruppenzugehörigkeit, Aufwertung oder Protest. Diese Angebote befriedigen Bedürfnisse. Man kann die Ideologie brechen, wenn diese Bedürfnisse anders befriedigt werden. Unser Zugang ist, ihnen Angebote zu bieten.

STANDARD: Welche Angebote?

Reicher: Zum Beispiel ehrenamtliches Engagement. Ich hatte einen Jugendlichen, der hat bereits mit dem Gedanken gespielt, nach Syrien zu gehen. Ich habe ihn gefragt: warum? Er hat gesagt, es gab einen biografischen Bruch, weil er die ihm bereits versprochene Lehrstelle doch nicht bekommen hat. Die Eltern waren furchtbar enttäuscht. Gleichzeitig war er in Kontakt mit Propagandisten aus Syrien. Die haben ihn übers Internet kontaktiert und ihm gesagt: Du musst ja nicht kämpfen, du kannst auch armen Menschen helfen.

STANDARD: Wie haben Sie reagiert?

Reicher: Ich habe ihm gesagt: "Arme Menschen haben wir in Österreich genug. Da musst du nicht nach Syrien fahren. Machen wir lieber da was." Wir haben dann eine Möglichkeit gefunden, wie er sich ehrenamtlich engagieren konnte. Parallel dazu haben wir viel über die Ideologie gesprochen mit einem islamischen Seelsorger. Mit der Familie haben wir auch gearbeitet, erklärt, wie wichtig es ist, für ihn da zu sein, egal wie viel Scheiße er gebaut hat.

STANDARD: Welche Rolle spielen die sozialen Netzwerke bei Radikalisierung?

Reicher: Ein Drittel ihrer Zeit verbringen Jugendliche im Internet – wie viel Platz hat das in der Schule? Wenn es nach mir ginge, müsste man bereits in der Volksschule darüber reden. Da braucht es auch politische Lösungen. In Wirklichkeit regeln private Konzerne wie Facebook, die neoliberaler Logik unterworfen sind, wie wir zusammenleben und welche Sachen gelöscht werden und welche nicht. Dem ist das scheißegal, ob ein Video Hass schürt. Der freut sich, dass es viele Klicks hat und viel Kohle bringt.

STANDARD: Was lösen Hassvideos bei Jugendlichen aus?

Reicher: Sie emotionalisieren unglaublich. Sie lösen auch eine berechtigte Wut aus. Der gemeinsame Nenner von Jihadisten ist die Entfremdung von der Gesellschaft durch Diskriminierungserfahrungen. Propagandisten erzeugen Rache- und Gewaltfantasien. Mit dem Opfermythos, mit dem in den Videos gearbeitet wird, wird das ideologisiert. Aber dass Menschen in Syrien sterben, das ist ja real. Das brauche ich nicht zu beschwichtigen. Diese Wut brauche ich ihnen nicht wegzunehmen, sondern muss sie mit ihnen aufarbeiten und ihnen helfen, die Wut zu kanalisieren. Wir finden Aufgaben für sie, die Gesellschaft zu verbessern, ohne dass sie auf Propagandisten hereinfallen.

STANDARD: Welche Rolle spielt die Art, wie mit migrantischen Jugendlichen in Österreich umgegangen wird?

Reicher: Diskriminierungserfahrungen werden oft schon als normal angesehen. Da verfällt man als Sozialarbeiter manchmal in eine Art Beschwichtigungshaltung, weil man es nicht wahrhaben will. Etwa wenn mir eine 14-Jährige erzählt, dass die Lehrerin zu ihr sagt: "Du sitzt eh nur wegen dem Kindergeld da." Das kann man gar nicht glauben, dass jemand so etwas sagt. Das ist aber die Realität, diese Erlebnisse gilt es ernst zu nehmen. Gegen solche Aussagen muss man auch gemeinsam mit den Jugendlichen vorgehen. Diese realen Diskriminierungserfahrungen sind natürlich ein Push-Faktor, der Jugendliche zu unterschiedlichen extremistischen Ideologien treiben kann. Ein Hauptproblem für Jugendliche mit Migrationshintergrund ist: Es wird ihnen dauernd suggeriert, ihr müsst euch entscheiden – entweder Türke oder Österreicher, beides geht nicht. Dass es aber sehr wohl funktioniert, seine Identität aus unterschiedlichen kulturellen Bezügen zu entwickeln, beweisen ganz viele Menschen tagtäglich. Das ist aber im öffentlichen Diskurs nicht sehr sichtbar. Kultur ist nichts Statisches, Kultur ist immer im Wandel, und unsere Welt ist nicht nur schwarz und weiß – genau das müssen wir Erwachsene den Jugendlichen vorleben.

STANDARD: Wie stoßen Sie auf das Thema Extremismus?

Reicher: Die Themen der Jugendlichen sind die Themen, mit denen wir uns beschäftigen. Jetzt sind zum Beispiel die "Killerclowns" ein Thema. Die Jugendlichen bestimmen, worüber wir reden. Das Jugendphänomen Pop-Jihad hat in den letzten Jahren abgenommen. Die Jugendlichen, die damit sympathisiert haben, interessiert das nicht mehr. Die haben coole Jobs, die erste Liebe und ihren Platz in der Gesellschaft gefunden. Das immunisiert gegenüber extremistischen Ideologien. Armut, Perspektivlosigkeit und Rassismus sind riesige Themen bei den Jugendlichen. Damit muss sich die Politik beschäftigen, ansonsten wird es immer Menschen geben, die anfällig für Sektierer und Propagandisten sind. (Stefanie Ruep, 2.12.2016)