Von Wahl zu Wahl werden Wählerstromanalysen errechnet, deren Grundlage die Daten aus den einzelnen Gemeinden sind.

Foto: APA / Herbert Neubauer

Der Wähler ist in seiner Entscheidung frei. Er kann sich noch in der Wahlzelle entscheiden, sein Kreuzerl doch anderswo zu machen, als ursprünglich geplant – auch anders, als er es vielleicht vorher in einer Umfrage angegeben hat.

Die Wahl ist ja frei und vor allem geheim.

Und doch ist es für Statistiker nicht ganz geheim, wie sich welche Gruppen von Wählern entschieden haben. Denn von Wahl zu Wahl werden Wählerstromanalysen errechnet – noch nach Jahrzehnten kann man feststellen, wie die Parteien in der Wählergunst von Wahl zu Wahl gestiegen oder gesunken sind.

Dies ist nicht nur für Historiker interessant, die daraus etwa nachvollziehen können, woher die Stimmen gekommen sind, die in der Zwischenkriegszeit zum Aufstieg faschistischer Parteien geführt haben. Es ist auch aktuell für Parteimanager relevant, die Gewinne und Verluste ihrer Partei analysieren: Schließlich will man wissen, ob es gelungen ist, die Wähler vom letzten Wahlgang zu halten. Oder: wohin die Wähler vom letzten Mal verschwunden sind und wo neue Wähler hergekommen sind.

Wo die Wähler geblieben sind

Grundlage der Wählerstromanalysen sind die Daten aus den einzelnen Gemeinden: Wenn Wählerinnen und Wähler sich bei der aktuellen Wahl anders entscheiden als zuletzt, dann tun sie das meist nach einem bestimmten Muster, das auch in anderen, vergleichbaren Gemeinden ähnlich ist. Die einzelne Stimme findet sich also in einem "Strom" – und je größer so ein Strom ist, desto aussagekräftiger ist er.

So lässt sich etwa errechnen, dass beim ersten Wahlgang der Bundespräsidentenwahl die SPÖ-Stimmen der Nationalratswahl von 2013 zu 37,4 Prozent auf den SPÖ-Kandidaten Rudolf Hundstorfer entfallen sind, während 28,7 Prozent der SPÖ-Wähler von 2013 gar nicht wählen waren. 13,6 Prozent der SPÖ-Wähler von 2013 haben schon im ersten Wahlgang Norbert Hofer angekreuzt, acht Prozent sind bei Irmgard Griss und sieben Prozent bei Alexander Van der Bellen gelandet. So hat es der Wiener Statistiker Erich Neuwirth errechnet.

Der Statistikprofessor schränkt dabei ein, dass (je nach Stärke der Parteien bei der Nationalratswahl) Schwankungsbreiten zu beachten sind – für die SPÖ-Wählerschaft von 2013 liegen diese bei +/- 4,1 Prozent – für die Wählerschaften von Kleinparteien wie Neos oder Team Stronach erreichen sie aber um die 20 Prozent.

Herkunft der Stimmen

Neuwirth gibt auch zwei weitere Einschränkungen zu bedenken: Erstens unterstellt die Wählerstromanalyse, dass die Wählerschaften in den einzelnen Gemeinden annähernd gleich geblieben sind – eine massive Zu- oder Abwanderung würde bei dieser Methode zu falschen Interpretationen führen. Zweitens schränkt Neuwirth ein, dass in seinen Wählerströmen die Wahlkartenwähler nicht berücksichtigt sind, weil diese nicht einzelnen Gemeinden zugerechnet werden können – und auch nicht davon ausgegangen werden kann, dass stets dieselben Wahlberechtigten per Briefwahl wählen. Daher sei es korrekter, die Briefwahlstimmen der Partei der Nichtwähler zuzuschlagen.

Wir werden noch darauf zurückkommen.

Neuwirths Berechnungen – zu finden auf der Website www.waehlerstromanalyse.at und auf www.wahlhochrechnung.at – ermöglichen auch, die Herkunft der Stimmen zu errechnen. Die Hofer-Stimmen des ersten Wahlgangs kamen demnach zu 59,3 Prozent von bisherigen FPÖ-Wählern, zu 15,2 Prozent von ehemaligen ÖVP-Wählern und zu 11,2 Prozent von SPÖ-Wählern. Im zweiten Wahlgang setzte sich die Hofer-Wählerschaft nur noch zu 44,9 Prozent aus FPÖ-Wählern zusammen. 23,4 Prozent der Hofer-Wähler waren ÖVP-Wähler von 2013. 15,4 Prozent kamen aus der SPÖ.

Die Wählerschaft Van der Bellens im zweiten Wahlgang setzte sich demnach zu beinahe gleichen Teilen (26,4 und 26,9 Prozent) aus bisherigen Grün- und SPÖ-Wählern zusammen. ÖVP-Wähler machten einen 11,9-prozentigen Anteil an der Van- der-Bellen-Wählerschaft aus, die Neos lieferten 10,6 Prozent. 21,8 Prozent seiner Wähler kamen aber aus der Gruppe der Nichtwähler von 2013 (in der allerdings auch die Briefwähler enthalten sind).

Bemerkenswert ist auch die Analyse der Wählerströme zwischen erstem und zweitem Wahlgang: 550.000 Wähler von Irmgard Griss sind demnach bei Van der Bellen gelandet, ebenso 236.000 Wähler von Rudolf Hundstorfer (von dessen Wählerschaft sich aber auch 105.000 Personen bei Hofer eingestellt haben).

Die Wählerschaft Van der Bellens im zweiten Wahlgang setzte sich demnach zu 40,9 Prozent aus "eigenen" Wählern vom ersten Wahlgang, zu 30,6 Prozent aus Wählern von Griss und zu 13,2 Prozent aus Hundstorfer-Wählern zusammen. 11,8 Prozent kamen aus dem Kreis der Nicht-, Ungültig- oder Briefwähler vom April.

Schnell einmal nachgerechnet

Solche Wahlanalysen sind, wie gesagt, vor allem für Parteistrategen und Historiker wertvoll. Statistiker haben allerdings erkannt, dass die Wählerströme auch hervorragend geeignet sind, das Wahlergebnis vorherzuberechnen, wenn noch nicht alle Stimmen ausgezählt sind.

Das erfordert allerdings einen erheblichen Rechenaufwand – also leistungsfähige Computer. Die ersten entsprechenden Versuche machte der als Hochrechner der Nation bekannt gewordene Statistiker (und spätere ÖVP-Abgeordnete) Gerhard Bruckmann 1964 im IBM-Rechenzentrum. Das Experiment gelang, bei der Nationalratswahl 1966 wurde erstmals eine Hochrechnung aus dem IBM-Rechenzentrum im Fernsehen übertragen.

Die frühen Hochrechnungen waren in vieler Hinsicht leichter, erinnert sich Neuwirth, der bald zu Bruckmanns Team gestoßen ist: Erstens gab es weniger Parteien, zweitens waren die Wähler treuer.

Schwankende Berechnungen

Andererseits trafen die Daten viel langsamer per Telefon ein und mussten erst in Lochkarten gestanzt werden. Ein "Ritt über den Bodensee aus statistischer Sicht" sei übrigens die Zwentendorf-Abstimmung 1978 gewesen, erinnert sich Neuwirth: "Da war das ganze Team sehr nervös, weil die theoretische Untermauerung eher schwach war." Im Verlauf jenes Abends schwankten die Berechnungen mehrfach zwischen Ja und Nein. Es blieb beim Nein.

Schwierig auch: Bei Wahlschluss um 17 Uhr hatte man seinerzeit erst fünf Prozent der Stimmen ausgezählt, am Sonntag werden es um die 50 Prozent sein. Und auch, wenn das Innenministerium erst ab 17 Uhr die Daten an die Wahlforscher weiterleitet, sollte man – unter Heranziehung der Wählerstromanalyse – innerhalb kurzer Zeit das Wahlergebnis hochrechnen können.

Für moderne Laptops keine große Herausforderung, sagt Neuwirth im Gespräch mit dem STANDARD: "Eine Excel-Tabelle mit 5000 Zeilen und acht Spalten – da hat man das Ergebnis in 25 bis 30 Sekunden, wobei der Aufbau der Grafiken am längsten dauert." Viel aufwändiger sei aber die Denkarbeit, welchem Wählerstrommodell man letztendlich vertrauen wolle, um aus den bekannten Auszählungsergebnissen auf die noch nicht ausgezählten Gemeinden zu schließen. Das betrifft vor allem Wien.

Und die Briefwahlstimmen? Die machen immerhin ein Sechstel der Stimmen aus – und da könne man überhaupt nur schätzen. Erfahrung hilft dabei – "aber man muss ehrlich sagen, dass das eben eine Schätzung ist und keine 'Hochrechnung inklusive Wahlkarten' sein kann". (Conrad Seidl, 3.12.2016)