Autor und Verleger des renommierten Verlages Farra Straus & Giroux: Jonathan Galassi.


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Jonathan Galassi, "Die Muse." Aus dem Amerikanischen von Uljana Wolf." € 22,70 / 272 Seiten. S.-Fischer-Verlag, Frankfurt 2016

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Das Problem eines jeden Schlüssellochromans ist nicht, wie fein das Schlüsselloch ziseliert ist, sondern ob man die perspektivisch verzerrten Personen dahinter überhaupt kennt. Ihre Macken, ihre Exzentrizitäten, ihren Größenwahn und die kleinen aufschlussreichen charakterlichen Malaisen und Knoten in der Psyche.

Wenn nun der 1949 geborene Jonathan Galassi, seit 35 Jahren im Buchgeschäft tätig und inzwischen Verleger des hochrenommierten unabhängigen Verlags Farrar Straus & Giroux in New York einen Roman über das Buch- und Verlagsgeschäft schreibt, dann liegt auf der Hand: Dies ist ein Schlüsselroman. Über das Büchermachen, wie man es im Lauf von 50 Jahren gekannt hat. Und über dessen Ende.

Im Mittelpunkt stehen ein Lektor eines unabhängigen New Yorker Literaturverlags, Paul Dukach, und die 1925 geborene Dichterin Ida Perkins. Letztere gilt, seitdem sie mit 18 Jahren skandalös debütierte, als mittlerweile größte lebende amerikanische Dichterin.

Nach drei bewegten Ehen lebt sie nun zurückgezogen mit einem um 25 Jahre jüngeren italienischen Grafen, ihrem vierten Gemahl, in einem Palazzo in Venedig. Ida Perkins ist Autorin beim New Yorker Verlag Impetus Editions von Stirling Wainwright aus schwerreicher Ostküstenunternehmerdynastie, zudem mit diesem Gentlemanverleger alten Schlags verwandt.

Dukach, einer der besten Kenner des Werks von Perkins, arbeitet beim Verlag Purcell & Stern für dessen direkten Rivalen, Homer Stern, der die andere Seite früheren Büchermachens verkörpert: laut, brachial, derb, hedonistisch in jeder Hinsicht und seit Jahren Ida Perkins umgarnend.

Zwischen beiden charismatischen, überlebensgroßen betagten Patriarchen ist Dukach hin- und hergerissen. Erhält dann nach der Frankfurter Buchmesse 2010 – schön sarkastisch bis zur Kenntlichkeit verzerrt, etwa wie dort internationale Bestseller "gemacht" werden – einen Exklusivtermin bei der fragilen Perkins, die ihm ihr letztes Manuskript mit allen Rechten schenkt.

Er ist begeistert von diesen letzten Gedichten, die ihr gesamtes Werk auf den Kopf stellen, handelt es sich doch um Liebesgedichte der viermal Verheirateten an eine Geliebte, an ihre Muse. Dukach versucht vergeblich, Perkins zu kontaktieren, ist er doch ratlos, wie er mit diesen Pikanterien umzugehen hat. Denn allzu deutlich ist, wer diese Muse war. Doch wenig später stirbt Ida Perkins.

Der Band erscheint nach diplomatischen Manövern und wird ein gewaltiger Erfolg. In den folgenden vier Jahren sterben Wainwright und Stern. Dukach wird Verleger und zieht sich, als Purcell & Stern von einem Internetunternehmen geschluckt wird, aus dem Buchgeschäft zurück – um ein Buch über Ida Perkins zu schreiben, das man dann im beigefügten Literaturnachweis aufgeführt findet, mit dem Erscheinungsjahr 2019.

Mit etwas Szenekenntnis erkennt man in den beiden Rivalen Wainwright und Stern einstige Verleger aus früheren pittoresken Verlagszeiten, Alfred Knopf, Roger Straus oder James Laughlin, den Gründer von New Directions.

Man kann einen deutschen Verleger, der vor jeder Frankfurter Buchmesse Kraft in einem Luxushotel am Bodensee sammelt, als Siegfried Unseld identifizieren, in einem anderen, glänzend vernetzten, den langjährigen Hanser-Chef Michael Krüger erkennen, im Gründer des Internetgiganten mit übelstem Leumund namens Medusa den Amazon-Chef Jeff Bezos, in einem raffgierigen Literaturagenten den realen Andrew Wylie, in der Branche nur "Der Schakal" genannt wegen seiner harten Verhandlungsführung, in Erik Nielsen Jonathan Franzen. Und so weiter und so fort.

Der S.-Fischer-Verlag hat dem Ganzen noch einen eigenen Insiderwitz hinzugefügt. Er hat nämlich Galassis Dichterinnenbuch von einer der aktuell interessanteren deutschsprachigen Lyrikerinnen, von Uljana Wolf, ins Deutsche übertragen lassen, die Gedichte besser als die erzählerische Prosa übrigens. Das Problem ist aber neben den zahllosen Insideranspielungen, Parodien, Travestien und Gerüchten ein anderes, schwerwiegenderes. Die Hauptfigur Paul Dukach bleibt nämlich durchsichtig, ja papieren.

Im Grunde ist er ein gründlich abgestandenes Klischee auf zwei Beinen. Jüngster Sohn einer kleinstädtischen Familie, und, im Gegensatz zu seinen kräftigen Brüdern durch und durch unsportlich, muss er natürlich Zuflucht finden bei Büchern, muss natürlich entdecken, dass er homosexuell ist, muss natürlich später fast nur unglückliche Affären haben, die das Wort "Affäre" nicht verdienen, muss natürlich im Beruf anticharismatisch sein – um sich dann nach seiner Kündigung in ein Häuschen auf dem Land zurückzuziehen, um, natürlich, Antiquiertes zu unternehmen: selber ein Buch zu schreiben.

Auf den letzten fünf, sechs Seiten folgt auf einen guten, manchmal sehr guten Satz ein pathetischer und hohler. Und das zieht sich über zahlreiche Absätze hinweg, so dass man am Ende nicht weiß, ob Jonathan Galassi, der auch drei Gedichtbände veröffentlicht hat, selber ein guter Autor ist – oder nur ein sich weidlich amüsierender Insiderwitzerzähler. (Alexander Kluy, Album, 3.12.2016)