Bild nicht mehr verfügbar.

Karl Schwarzenberg: "Nur den Markt zu sehen war zu wenig."

Reuters / Petr Josek

Lech am Arlberg – Die Europäische Union sei nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 mit der folgenden Erweiterung nach Mittel- und Osteuropa "das erfolgreichste Modell der Zivilisation". Es herrsche seit Ende des Zweiten Weltkriegs nicht nur seit 70 Jahren Frieden. Die 1957 begründete EU stelle darüber hinaus den bisher überzeugendsten Modellfall für "eine offene Gesellschaft" im Sinne des Philosophen Karl Popper dar.

Mit dieser Steilvorlage wartete der deutsche Sozialpsychologe Harald Welzer zum Auftakt des "Mediengipfels" in Lech am Arlberg auf. Bei diesem tauschen sich Politiker, Wissenschafter und Medienleute einmal im Jahr unter anderem zum Thema Europa aus, jenseits der aktuellen Ereignisse.

Laut Melzer kennzeichne die EU im Kern, dass die Menschen – Krisen hin oder her – "als freie Bürger auftreten könnten. Recht und Rechtsstaat seien gesichert. Anders als in geschlossenen Gesellschaften, die ihre Ideologien historisch gesehen am Ende meist durch Gewalt durchgesetzt hätten, würden in der EU "gesellschaftliche Veränderungen berücksichtigt und entwickelt, von Ökologie über Frauenrechte bis hin zu Bürgerrechtsbewegungen".

Dennoch sei in den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten die paradoxe Situation eingetreten, dass Populisten gegen die Union im öffentlichen Diskurs die Oberhand gewonnen haben, erklärte der Sozialpsychologe. Bis zu den Wahlkämpfen in der Gegenwart (auch in den USA) zeige sich, dass Rechtspopulisten "durch Regelverletzungen und rechtspopulistisches Marketing" die Gemeinschaft delegitimierten. Die Medien, die dieses Spiel in "Medienschleifen" mitspielten, trügen dabei eine große Verantwortung.

Im Moment würden wir alle Zeugen eines "Erosionsprozesses" der EU. Karl Schwarzenberg, Ex-Außenminister von Tschechien, hakte im Impulsreferat vor einer von STANDARD-Chefredakteurin Alexandra Föderl-Schmid moderierten Expertendiskussion ein: Es sei wichtig festzuhalten, dass der Populismus nicht nur von rechts, sondern auch von links wirke. "Demagogen und Großmäuler" hätten das Sagen. Aber die vor 150 Jahren gegründeten "demokratischen Parteien, linke und konservative" könnten dem mangels Erneuerung derzeit wenig entgegensetzen, so Schwarzenberg.

Europa falle gegenüber China, den USA, Asien zurück, wirtschaftlich und was die Innovation betrifft, konstatierte Schwarzenberg. Die Politik habe seit zehn Jahren verabsäumt, sich um die wirtschaftlichen Probleme vieler Bürger zu kümmern, "nur den Markt zu sehen war zu wenig".

Europa als schönes Venedig

Was sei also zu tun? Schwarzenberg mahnte ein, den Bürgern reinen Wein einzuschenken: "25 schöne Jahre sind vorbei." Europa drohe "ein Venedig" zu werden, schön anzuschauen, aber ein Museum. Welzer empfahl, entschiedener gegen Populisten aufzutreten, den Bürgern auch aktiv zu vermitteln, was gut sei an der EU.

Der EU-Abgeordnete Othmar Karas forderte vor allem ein Umdenken in seinem eigenen Berufsstand: Er habe den Eindruck, vielerorts herrsche die Auffassung, dass man im Wahlkampf alles sagen und fordern könne, das nach der Wahl "keine Gültigkeit oder Wertigkeit mehr hat". Dies sei für die Entwicklung der Demokratie in Europa das Gefährlichste. (Thomas Mayer, 2.12.2016)