Magnus Carlsen gewährt Audienz: "Offensichtlich sinkt meine Spielstärke erheblich, wenn es für mich nicht nach Plan läuft."

Foto: Anatol Vitouch

New York – Magnus Carlsen ist kein Mann vieler Worte. Am Tag nach der erfolgreichen Titelverteidigung gegen Sergej Karjakin lud der norwegische Schachweltmeister in New York trotzdem eine Handvoll Journalisten zum Gespräch ins Ritz Carlton. Der STANDARD war mit von der Partie.

STANDARD: In der Pressekonferenz nach der letzten Partie haben Sie kurz erwähnt, dass Ihnen die Kontrolle Ihrer Emotionen in diesem Wettkampf nicht leicht gefallen ist. Halten Sie diesen Punkt derzeit für Ihre größte Schwachstelle?

Carlsen: Ja, ganz bestimmt. Solange ich alles unter Kontrolle habe, ist es denke ich sehr, sehr schwierig, mich zu schlagen. Aber ganz offensichtlich sinkt meine Spielstärke erheblich, wenn es für mich nicht nach Plan läuft. Ich glaube, dass ich daran in Zukunft vielleicht ernsthafter arbeiten muss. Denn wenn es gut für mich läuft, dann ist alle sehr einfach: Ich schreite von Sieg zu Sieg und das Selbstvertrauen ist da. Wenn es aber einmal nicht da ist, dann bricht alles ein wenig auseinander.

STANDARD: In nahezu allen anderen Sportarten arbeiten die Topspieler mit spezialisierten Sportpsychologen zusammen. Ziehen Sie das jetzt auch in Erwägung?

Carlsen: Ja, mehr denn je.

STANDARD: Es ist bekannt, dass guter, langer Schlaf sehr wichtig für Ihre Leistung ist. Haben Sie im Verlauf des Wettkampfes gut geschlafen, auch in den kritischen Phasen?

Carlsen: Nach der Niederlage in der achten Partie ist es mir nicht leicht gefallen einzuschlafen. Aber nachdem ich die zehnte Partie gewonnen hatte, habe ich wie ein Baby geschlafen.

STANDARD: Wie haben Sie die letzte Phase des WM-Matches erlebt?

Carlsen: Die letzte Phase war für mich sehr viel einfacher als die Tage zuvor. Schon vor dem Tiebreak hatte ich ein sehr gutes Gefühl, ich war zuversichtlich und ruhig. Am Mittwoch, als die Tiebreaks gespielt wurden, hatte ich sehr viel Spaß, und ich glaube, es wurde eine gute Schach-Show geboten.

STANDARD: Es hat sich bei diesem Wettkampf eindeutig um das härteste der drei WM-Matches gehandelt, das Sie bisher gespielt haben. War Ihr Gegner stärker als erwartet?

Carlsen: Ich glaube, ich habe in diesem Match viele Dinge richtig gemacht, was die grundsätzliche Strategie, die Arbeit an den Eröffnungen und so weiter betrifft. Normalerweise hätte ich angesichts der gewonnen Stellungen in Partie drei und vier früh in Führung liegen müssen. In diesem Fall wäre es ein ganz anderes Match geworden. Vielleicht hätte ich mich in meiner Vorbereitung mehr auf das Spiel in der fünften, sechsten, sogar siebten Stunde einer Partie konzentrieren sollen. Denn ich hatte das Gefühl, dass ich meinem Gegner in Stunde zwei und drei der Partien überlegen war. Danach aber begann er, sich sehr gut zu verteidigen, und es wurde schwierig für mich.

STANDARD: Haben Sie selbst nicht Ihre übliche Stärke abrufen können?

Carlsen: In manchen Partien habe ich vielleicht Fehler begangen, die mir normalerweise nicht passieren. Aber ich denke, es waren keine allzu ungewöhnlichen Aussetzer dabei. Partie sieben und acht waren ganz einfach furchtbar für mich. In der achten Partie habe ich an einem gewissen Punkt einfach gegambelt, und es hat nicht funktioniert.

STANDARD: Gab es Äußerlichkeiten, die Ihr Spiel beeinflusst haben? Etwa als Sie in Partie fünf vergaßen, einen Zug auf Ihrem Partieformular zu notieren? Oder der Konflikt um die Pressekonferenz nach Partie acht, an der Sie nicht teilnahmen?

Carlsen: Der vergessene Zug hat sicher dazu beigetragen, dass ich in dieser Partie später einen großen Fehler begangen habe. Ich glaube aber nicht, dass mich das in den weiteren Partien noch beschäftigt hat. Und die Sache mit der Pressekonferenz – nun, das war sicher kein Moment, auf den ich stolz bin. Aber ich war einfach am Boden zerstört, ich konnte dort nicht sitzen bleiben.

STANDARD: Haben Sie zu irgendeinem Zeitpunkt damit gerechnet, den WM-Titel zu verlieren?

Carlsen: Ja, nach der achten Partie war ich ganz und gar nicht positiv eingestellt. Ich war zwar immer noch der Meinung, dass ich der stärkere Spieler bin. Aber ich befürchtete, dass es sehr schwer werden würde, das noch unter Beweis zu stellen. Denn es gab ja nicht mehr viele Chancen, noch Partien zu gewinnen. Ein Teil von mir hat immer noch an den Sieg geglaubt, aber es war sehr, sehr schwierig für mich.

STANDARD: Wie sind Sie mit diesen Gefühlen umgegangen?

Carlsen: Natürlich ist es in solchen Momenten am wichtigsten, sich auf den Prozess zu konzentrieren und nicht an das Ergebnis zu denken. Aber das ist mir in diesem Moment ungeheuer schwer gefallen. Sogar während der Partien musste ich manchmal denken: Wie soll ich das nur gewinnen? Anstatt ganz einfach nach dem besten Zug zu suchen. Das ist natürlich keine optimale Strategie.

STANDARD: Und wie haben Sie es dann geschafft, diese negativen Gedanken doch noch zu überwinden?

Carlsen: Ich weiß es nicht. Auch vor der zehnten Partie war ich in keinem besonders guten Zustand. Aber immerhin war ich in der Lage, in dieser Partie eine mehr oder weniger ordentliche Leistung abzurufen. Natürlich, Sergej hätte an einem gewissen Punkt das Remis forcieren können, und ich dachte nur: Nicht schon wieder! Ich war überzeugt davon, dass wir gleich nach Hause gehen und ich in der elften Partie mit Schwarz würde auf Gewinn spielen müssen. Aber dann hat Sergej etwas anderes gespielt und die Partie hat noch einmal ganz von vorne begonnen.

STANDARD: Macht die Tatsache, dass Sie in diesem Match nicht Ihr bestes Schach gezeigt haben, den Sieg noch wertvoller, oder ist das für Sie als Perfektionist frustrierend?

Carlsen: Ein bisschen von beidem. Es tut gut zu wissen, dass ich ein WM-Match auch dann gewinnen kann, wenn es nicht für mich läuft. Denn was bis zur neunten Partie in diesem Match passiert ist, war für mich fast das Worst-Case-Szenario. Aber natürlich bin ich trotzdem unzufrieden mit meiner Chancenverwertung, ich möchte mein Spiel immer verbessern.

STANDARD: Wie würden Sie das Match insgesamt charakterisieren?

Carlsen: Ich denke, vor allem war es ein Kampf. Und eigentlich ist es genau das, worum es für mich im Schach und in solchen Matches geht. In diesem Sinne war es großartig.

STANDARD: Zehn Millionen Menschen haben das Match auf der Webseite des Veranstalters live verfolgt, zehntausend Zuschauer waren insgesamt vor Ort dabei. Wie sehen Sie die Entwicklung des Schachs in Richtung Zuschauer-Sport?

Carlsen: Es gefällt mir, wenn Menschen meine Liebe zu diesem Spiel teilen. Deshalb freue ich mich über jeden Einzelnen, der bei Schach-Ereignissen mit dabei ist – egal ob vor Ort, über das Internet, als Fan oder als Journalist.

STANDARD: Sie haben sich wiederholt positiv über den Knockout-Modus geäußert, in dem Schachweltmeisterschaften einige Jahre lang ausgetragen wurden. Befürchten Sie bei einer Rückkehr zu diesem System keine Entwertung des Titels durch Zufallsweltmeister?

Carlsen: Für mich ist das Wichtigste, dass der Modus fair ist. Die Schachwelt scheint derzeit meine positive Sicht auf das Knockout-System nicht zu teilen und Matches im aktuellen Modus zu bevorzugen, also muss ich damit zurechtkommen. Für Verbesserungen bin ich jederzeit offen, aber das Wichtigste ist, dass uns Spielern ermöglicht wird, unser bestes Schach zu zeigen.

STANDARD: Wie denken Sie über die Zukunft des Schachs als pädagogisches Werkzeug? Sie haben sich interessiert an diesem Aspekt gezeigt, hier in New York zum Beispiel die Brooklyn School besucht.

Carlsen: Ich hoffe, dass wir Schach in mehr Ländern in die Schulen bekommen können. Denn es ist mir wichtig, die Botschaft in der ganzen Welt zu verbreiten, dass Schach gleichzeitig Spaß macht und bildet. (Anatol Vitouch, 2.12.2016)

Hinweis

Der STANDARD führte das Gespräch gemeinsam mit anderen Journalisten.