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Alle Augen auf die Richter des Supreme Court, die hier auf einem Archivfoto das Gerichtsgebäude verlassen.

Foto: Reuters/McGregor

So viele Zuschauer dürfte der Londoner Supreme Court noch nie gehabt haben: An diesem Montag beginnt der Oberste Gerichtshof seine live im Fernsehen übertragenen Beratungen über Großbritanniens EU-Austritt. Vier Tage lang wollen die elf Höchstrichter öffentlich darüber beraten, ob die Regierung die Zustimmung des Parlaments dafür braucht, bis Ende März Artikel 50 des Lissabon-Vertrags in Kraft zu setzen, der den Brexit binnen zwei Jahren einleitet. Die konservative Premierministerin Theresa May ist einer Sprecherin zufolge "extrem zuversichtlich", dass es bei diesem Zeitplan bleibt.

Der Volksabstimmung vom vergangenen Juni lag eine Parlamentsentscheidung zugrunde. Damit hätten die Volksvertreter ihre Kompetenz in der Frage der EU-Mitgliedschaft ans Volk zurückgegeben, argumentiert die Regierung. Ihr komme daher das Recht zu, den Volkswillen zum geeigneten Zeitpunkt umzusetzen. Dagegen hatten mehrere Privatkläger, angeführt von der Vermögensverwalterin Gina Miller, beim High Court Einspruch eingelegt und Anfang November Recht bekommen.

Die Kammer unter Leitung des höchsten englischen Richters, Lord Chief Justice John Thomas, räumte der Exekutive zwar bei wichtigen außenpolitischen Entscheidungen das sogenannte "königliche Vorrecht" ("royal prerogative") ein. Weil der Brexit aber nicht nur die Außenpolitik des Landes verändert, sondern viele britische Gesetze auf EU-Recht basieren, gelte weiterhin die Souveränität des Parlaments (Fachterminus: "Queen-in-Parliament"). Das Referendum habe nur beratenden Charakter, befand das Gericht.

Mit diesem Urteil habe der High Court die Volksabstimmung "zu einer Fußnote degradiert", findet die Regierung und hat deshalb Berufung beim Supreme Court eingelegt. Und so starrt das politische London diese Woche auf die Middlesex Guildhall am Parliament Square, wo seit 2009 der Oberste Gerichtshof residiert. Noch nie haben seine sämtlichen, derzeit elf Angehörigen gemeinsam ein Verfahren beurteilt. Normalerweise sind maximal sieben Höchstrichter gleichzeitig im Einsatz. Diesmal hat Gerichtspräsident David Neuberger seine Stellvertreterin Brenda Hale sowie sämtliche neun männlichen Kollegen zusammengetrommelt. Der Eindruck, das Ergebnis sei durch die Auswahl der Richter beeinflusst, soll in dem heiklen Verfahren vermieden werden.

Ergebnis im Jänner

Das Ergebnis dürfte frühestens Mitte Jänner vorliegen. Die meisten Rechtsexperten rechnen mit der Zurückweisung der Berufung. Dann müsste die Tory-Regierung rasch das Parlament um Zustimmung zum Brexit-Verfahren bitten. Diese gilt als sicher. Zwar gelang den EU-freundlichen Liberaldemokraten vergangene Woche ein Sensationssieg: Bei der Nachwahl im Londoner Vorort Richmond Park setzte sich ihre Kandidatin Sarah Olney gegen den prominenten Tory Zac Goldsmith durch. Doch müssen vor allem Labour-Parlamentarier den Zorn ihrer Stimmbürger fürchten. "Mehr als 70 Prozent aller Wahlkreise in England und Wales stimmten für den Brexit, daran kommen deren Abgeordnete nicht vorbei", glaubt Professor Anand Menon vom Thinktank "UK in a changing Europe". (Sebastian Borger aus London, 5.12.2016)