Geduld ist nicht seine erste Stärke. Nur vier Tage nach der Verzichterklärung seines Vorgesetzten François Hollande gab Valls seine Kandidatur um die Präsidentschaft in seiner Hochburg Evry südlich von Paris bekannt. Vor einem Banlieue-Publikum teilte der 54-jährige Sozialist ferner mit, dass er seinen Posten als Regierungschef am Dienstag niederlegen werde. Ein Nachfolger stand am Montag vorerst noch nicht fest.
Mitarbeiter hatten Valls geraten, noch mindestens eine Woche zuzuwarten, um nicht den Eindruck zu erwecken, er springe für Hollande in die Lücke und trete sozusagen als sein Ersatzmann an. Als Premier hatte er die Politik des ihm vorgesetzten Präsidenten über zwei Jahre lang mitgetragen. Ursprünglich populärer als Hollande, litt er in letzter Zeit unter einem ählichen Vertrauensverlust in eigenen Partei. Die "Frondeure" des linken Flügels werfen ihm vor, er spalte mit seinem "Rechtskurs" die französische Linke.
"Nichts steht jetzt schon fest"
In seiner kämpferischen Kandidaturerklärung griff Valls am Montagabend bewusst Sozialthemen auf und präsentierte sich als einziger Linkskandidat, der die Rechte schlagen könne. "Nichts steht jetzt schon fest", meinte er zu Prognosen, dass der Konservative François Fillon und die Rechtsextreme Marine Le Pen das Finale der Präsidentenwahl im Mai 2017 unter sich ausmachen würden.
Wenn sich Valls so schnell outet, dann auch, um im Januar an den Vorwahl der Sozialisten teilzunehmen. Sie sollte ursprünglich Hollandes Kandidatur legitimieren. Jetzt erheischt Valls den Segen der Sozialistischen Partei, deren Name er einst "veraltet" fand und in "Sozialdemokratische Partei" ändern wollte.
Der scheidende Premier hat gute Aussichten auf die Nominierung: Umfragen schreiben ihm im ersten Wahlgang am 22. Jänner rund 45 Prozent der Stimmen gut; sein hartnäckigster interner Rivale, Ex-Wirtschaftsminister Arnaud Montebourg, käme auf 25 Prozent, Benoît Hamon als Drittplatzierter auf 14 Prozent.
Der Premier als Favorit
Damit ist Valls aber nur der Favorit seiner eigenen Partei – nicht der ganzen Linken: Zwei schwergewichtige Kandidaten der linken Mitte, Emmanuel Macron, und der Linkspartei, Jean-Luc Mélenchon, verweigern die Teilnahme an der Primärwahl und wollen im kommenden April auf jeden Fall zur Präsidentschaftswahl antreten. In den Umfragen für den ersten Durchgang der Präsidentenwahlen liegen sie derzeit sogar noch vor Valls. Nach jetzigem Stand würden sie damit allesamt im ersten Wahlgang gegen Fillon und Le Pen ausscheiden.
Dass Valls seine Kandidatur am gleichen Tag anmeldete, an dem der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi zurücktreten musste, ist Zufall – aber für Valls ein schlechtes Omen. "Er setzte auf einen Blairismus à la française", kommentierte am Montag Laurent Joffrin, Chefredaktor der Zeitung Libération. "Doch angesichts der Härten der Globalisierung ist der betonte Realismus des britischen Ex-Premier nicht mehr gefragt." Auch Frankreichs Linkswähler wollen keine diffizilen Strukturreformen, wie sie Valls vorschweben, sondern ein klares Bekenntnis gegen Austerität, Freihandel und Staatsabbau.
Die Chancen sind intakt
Die politische Erfahrung in Paris lehrt zudem, dass es nicht unbedingt ein Vorteil ist, als zuvor (subalterner) Premier für das Amt des (allmächtigen) Präsidenten zu kandidieren. Vor Valls hatten das schon andere bitter erfahren müssen: Jacques Chirac erlitt als Premier 1986 Schiffbruch (er gelangte erst 1995 ins Elysée), Edouard Balladur 1995, Lionel Jospin 2002. Valls war damals Jospins Presseberater gewesen und erlebte aus nächster Nähe mit, wie sein – durchaus erfolgreicher – Premierminister in der Präsidentschaftswahl kläglich abschnitt und sogar vom Rechtsextremisten Jean-Marie Le Pen überflügelt wurde.
Dennoch sind Valls‘ Chancen intakt. Und das hat er paradoxerweise seinem Hauptgegner Fillon zu verdanken: Der konservative Spitzenkandidat und Elysée-Favorit plädiert für ein so strenges und "rechtes" Reformprogramm, dass es links davon und in der Mitte plötzlich wieder viel Raum für Widersacher schafft. Und genau diesen Raum will Valls in den nächsten Monaten ausfüllen. (Stefan Brändle aus Paris, 6.12.2016)