In Österreich liegt der Anteil der Kinder, die per Kaiserschnitt auf die Welt kommen bei ungefähr 30 Prozent. Vor 20 Jahren waren es noch weniger als 15 Prozent.

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In vielen Ländern ist ein Trend zu Kaiserschnitten auszumachen – auch ohne direkten medizinischen Grund. Wiener Forscher haben nun analysiert, wie sich das auf die Entwicklung des Menschen auswirkt. Da das richtige Verhältnis zwischen der Größe des Kindes und des Geburtskanals unwichtiger ist, haben unbemerkt auch "echte" Geburtsprobleme zugenommen, so ihr Fazit im Fachblatt "PNAS".

In Österreich liegt der Anteil jener Kinder, die per Kaiserschnitt auf die Welt kommen, momentan bei ungefähr 30 Prozent. Vor 20 Jahren betrug dieser Prozentsatz hingegen noch weniger als 15 Prozent, wie Studienautor Philipp Mitteröcker vom Department für Theoretische Biologie der Uni Wien der APA erklärte. In Brasilien kommen mittlerweile sogar mehr als die Hälfte der Babys per Kaiserschnitt auf die Welt. Für längst nicht alle diese Operationen gibt es medizinische Gründe wie das Vorliegen eines zu engen Geburtskanals im Vergleich zum Kopfumfang des Kindes – einem sogenannten "Becken-Kopf-Missverhältnis".

Wie oft das vorkommt, "ist eigentlich schwierig zu schätzen, man nimmt aber an, dass die tatsächliche Rate zwischen zwei und sechs Prozent liegt", sagte Mitteröcker.

Dass Menschen überhaupt Geburtsprobleme haben, ist bereits ein evolutionärer Sonderfall. Eigentlich müssten Gene, die für zu schmale Becken und/oder zu große Föten sorgen, längst "ausgestorben" sein, da Frauen mit einer solchen Veranlagung früher selten die Geburt überlebt haben. Wissenschafter vermuten den Anfang aller Geburtsprobleme darin, dass der Mensch aufrecht zu gehen begann und dadurch ein schmales Becken entwickelte, lange bevor sein überdurchschnittlich großes Gehirn evolvierte.

Bei Lebensgefahr ein Segen

"Für unsere Fitnesskurve heißt das: Je schmäler das Becken und größer das Kind, umso besser – aber eben nur bis zu dem Punkt, an dem das Kind nicht mehr durchpasst: Dann wird es abrupt fatal", erklärt der Experte. Diesen Punkt markiert die sogenannte "Fitnessklippe". Sie hat sich seit regelmäßiger Anwendung des Kaiserschnitts deutlich verschoben: Da wir am Becken-Kopf-Missverhältnis nicht mehr sterben, werden die Becken schmäler und natürliche Geburten tendenziell problematischer. Lag früher ein Missverhältnis vor, bedeutete das vor dem Einsatz von Kaiserschnitten für viele Mütter und Babys akute Lebensgefahr bei der Geburt und natürlich einen massiven evolutionären Nachteil. Aus dieser Sicht ist der Eingriff, der ab den 1950er-Jahren breiter angewendet wurde, ein Segen.

Die Wissenschafter um den Evolutionsbiologen Mitteröcker haben sich nun angesehen, wie sich das Quasi-Wegfallen dieses einst sehr wichtigen Kriteriums für das Überleben von Mutter und Kind auswirkt. Mit dem Wissen über die ungefähre Lage der "Fitnessklippe" schätzten sie mit Hilfe von mathematischen Evolutionstheorie-Modellen ab, wie sich der Anteil an "Becken-Kopf-Missverhältnissen" in den vergangenen 50 bis 60 Jahren entwickelte.

Über die Vor- und Nachteile der in vielen Ländern "riesigen Kaiserschnittraten" gebe es mittlerweile "sehr viele medizinische Diskussionen. Dabei nimmt man in der Regel aber an, dass die tatsächliche Rate an Geburtsproblemen konstant ist. Wir zeigen, dass das nicht sein kann. Dass es einen Prozess gibt, der diese Rate vermehrt hat. Eine Frau mit einem schmalen Becken, und damit auch erhöhter Wahrscheinlichkeit von Geburtsproblemen, vererbt diese Merkmale an ihre Töchter weiter", erklärt der Studienautor. Bei einer konservativeren Annahme von drei Prozent "Becken-Kopf-Missverhältnissen" vor dem Kaiserschnitt ergab sich nach dem Wegfall des Selektionsdrucks eine Steigerung auf 3,3 bis 3,6 Prozent. Eine solche zehn- bis 20-prozentige Zunahme in einem derart kurzen Zeitraum hat die Wissenschafter überrascht.

Selektionsdruck abgeschwächt

"Ich glaube aber nicht, dass eines Tages alle Kinder per Kaiserschnitt auf die Welt kommen müssen", so Mitteröcker. Denn der Selektionsdruck wird auch an anderen Stellen von der modernen Medizin abgeschwächt, indem sich zum Glück etwa die Überlebenschancen von Frühgeborenen stark erhöht haben. Ein Gebärmuttervorfall sei ebenfalls meistens nicht mehr tödlich. Nicht zuletzt setze auch der Stoffwechsel der Mutter dem Wachstum des Kindes eine Grenze. "Dieser Trend kann also nicht ewig fortgesetzt werden", ist sich der Wissenschafter sicher.

Den Forschern gehe es jedenfalls nicht um Kritik am Kaiserschnitt an sich. Es sei ihnen aber zum ersten Mal gelungen, mathematisch zu beschrieben, wie die Medizin den Lauf der Evolution ändert und wie schnell das geschehen kann. (APA, red., 5.12.2016)