Catherine Meurisse
Die Leichtigkeit

Carlsen 2016
Hardcover, 144 Seiten, 20,60 Euro

Meurisse/Carlsen

Catherine Meurisse, 1980 geborene Zeichnerin und Karikaturistin, war die erste Frau im Redaktionsteam von "Charlie Hebdo".

Foto: Dargaud / Rita Scaglia

Wie unheilvolle Gewitterwolken türmen sich die Sprechblasen über dem Bett von Catherine Meurisse. "Mademoiselle, kommen Sie schnell, es geht zu Ende", ruft ein Arzt in einer der Blasen. "Er bittet Sie an sein Sterbebett. Seine Frau weiß nichts davon." So und so ähnlich spielt Meurisse in verschiedenen Varianten durch, wie ihr Geliebter, der nicht bereit ist, seine Familie für sie zu verlassen, an der Verdrängung seiner wahren Liebe stirbt.

Der nächtliche Liebeskummer rettete Catherine Meurisse, Karikaturistin bei "Charlie Hebdo", das Leben. Sie verschläft, verpasst den Beginn der morgendlichen Redaktionssitzung und entgeht damit dem Terroranschlag, bei dem am 7. Jänner 2015 ein Großteil der Redaktion des französischen Satireblatts ermordet wird.

Spontaner Strich

Wie weitermachen, wie weiterzeichnen? Wie wieder zurückfinden zur Leichtigkeit, einem intrinsischen Bestandteil von Humor im Allgemeinen und ihrer Arbeit im Besonderen? Diese Fragen stehen im Zentrum von Catherine Meurisses Aufarbeitungscomic "Die Leichtigkeit", das offiziell am 20. Dezember im Carlsen-Verlag auf Deutsch erscheint. "Ich gehöre zur Familie der Zeichner mit hingeworfenem, spontanem Strich, die sich nicht mit Ausschmückungen befassen", sagt Meurisse.

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Meurisse/Carlsen

In dem episodisch angelegten Band folgen wir der Zeichnerin, wie sie – mit Glubschaugen, dicker Nase und olivgrünem Parka – den Tag des Massakers und die Schockstarre danach erlebt. Wie sie versucht, ihre Leibwächter zu bestechen, um einmal allein Brot holen zu dürfen. Wie der Rest der Redaktion allen Galgenhumor zusammennimmt, um die millionenfach verkaufte "Überlebenden"-Ausgabe von "Charlie Hebdo" zu gestalten.

Seit vielen Jahren arbeitete die 1980 geborene Karikaturistin für das für seinen radikalen Antiklerikalismus bekannte Blatt, 2005 wurde sie als erste Frau ins Redaktionsteam aufgenommen. Das traumatische Ereignis zieht sie in einen unaufhaltsamen Strudel.

"Schlag voll in die Fresse"

Um sich nicht zu verlieren, sucht Meurisse Halt bei den alten Hasen, kramt das Credo des langjährigen Herausgebers Cavanna hervor: "Eine gute Pressezeichnung ist wie ein Schlag voll in die Fresse." Sie klammert sich an den "Geist von Charlie": "Das ist das Lachen über die Absurditäten des Lebens, gemeinsam zu lachen, um vor nichts Angst zu haben, vor allem nicht vor dem Tod."

Die kleineren und größeren Absurditäten in der Zeit nach dem Terroranschlag versammelt Meurisse in ihrem Comic: Sie verfrachtet die Attentäter auf die Psycho-Couch, wundert sich über die inflationären "Je suis Charlie"-Bekundungen und lässt die toten Kollegen wiederauferstehen. Dazwischen selbstironische Schmähs über ihr mangelhaftes Liebesleben und bizarre Beobachtungen aus ihrem Alltag.

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Meurisse/Carlsen

Doch meistens ist alles nicht so lustig: Erinnerungslücken klaffen auf, Sprechblasen bleiben leer. Es folgt ein Absturz, der Psychiater attestiert eine Erinnerungsamnesie, ausgelöst durch einen Zustand der Dissoziation infolge des Schocks vom 7. Jänner.

Es bleibt nichts, als einen schrittweisen Neubeginn zu versuchen. Das Rezept der Wahl: das Stendhal-Syndrom. "Die Ohnmacht, die einen jeden angesichts einer Flut von Schönheit ergreifen kann", wie ein Frosch die in jedem Wortsinn schwimmende Autorin in einer Schlüsselszene aufklärt. Also sucht Meurisse um Asyl an in der Villa Medici in Rom, die auch als Künstlerresidenz dient.

Der Arsch Gottes und die Zensur

Mit dem Geist Stendhals im Schlepptau flaniert sie durch das Forum Romanum, lässt sich durch Kirchen und Galerien treiben. Vergleiche zwischen brutalen Gewalttaten der antiken Mythologie und dem Massenmord durch IS-Terroristen im Bataclan-Theater am 13. November drängen sich auf. Aber auch der Vergleich einer nach oben offenen Kirchenkuppel mit einem Darmausgang. Und überhaupt, wie Meurisse angesichts eines eindeutigen Deckenfreskos Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle feststellt: "Seltsamerweise wurde der Arsch Gottes nie zensuriert."

Meurisse/Carlsen

Meurisse meistert es mit einer respektablen Bodenständigkeit, der Tragik des Anschlags auf "Charlie Hebdo" einen gehörigen Schuss Brachial- und Fäkalhumor entgegenzusetzen, das ureigene Markenzeichen der Zeitung. Wobei die Zeichnerin in einem Interview feststellt: "Das oft falsch interpretierte Bild von 'Charlie' ist das eines lustigen Haufens rüpelhafter Provokateure. Dabei vergisst man, dass die Rüpelhaftigkeit eines Charb oder eines Reiser der von Rabelais oder Voltaire in nichts nachstand."

Meurisse, die letztlich im Herbst dieses Jahres beschloss, "Charlie Hebdo" zu verlassen, ist nicht neu auf dem Gebiet der Bandes dessinée, wie Comics in Frankreich heißen. Wobei sie die narrativen Stilmittel des Comics mit der pointierten Reduktion der Karikatur spielend verknüpft. Rahmen benötigt sie selten, und zwischen die Schwarz-Weiß-Zeichnungen setzt sie oft nur gezielte Farbtupfer. Dafür lässt sie an anderen Stellen ganzseitige Aquarellbilder in einem Farbspektakel von Pastell bis Grell erleuchten.

Meurisse/Carlsen

"Es gab nicht das Ziel, 'Die Leichtigkeit' im Format der Graphic Novel zu verhandeln. Ich habe lediglich versucht, meine Haut zu retten, indem ich ein Buch machte", sagt Meurisse. Ein Ansatz, der schon den ebenfalls überlebenden "Charlie"-Zeichner Luz zu seinem Comicbuch "Katharsis" (2015 bei Fischer erschienen) bewogen hatte. Beide zeigen, wie unbeugsam und befreiend Humor sein kann und muss. (Karin Krichmayr, 15.12.2016)