Die Firmengeschichte von Wilhelm Jungmann & Neffe stand am Beginn von Georg Gauguschs emsiger Recherche. Daraus entwickelte sich vor mehr als zwanzig Jahren eine Leidenschaft, die dem 42-Jährigen nicht nur unter Historikern internationale Anerkennung eintrug.

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Georg Gaugusch, "Wer einmal war. Das jüdische Großbürgertum Wiens 1800-1938, L-R". € 108,- (Subskriptionspreis bis 31. 1. 2017), € 148,- (ab 1. 2. 2017) / 1456 Seiten. Amalthea-Verlag, Wien 2016 ISBN: 978-3-85002-773-1

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Das 150-jährige Firmenjubiläum ruft dieser Tage sogar Modebloggerinnen auf den Plan, schon weil das historische Flair bei Wilhelm Jungmann & Neffe in der Textilbranche längst eine Ausnahme ist. Nicht nur der bis unter die Decke geschlichteten Stoffballen wegen. Dass der heimliche Höhepunkt solcher medialer Stippvisiten nicht selten der unterirdische Verbindungsgang zum Hotel Sacher ist, sei erwähnt.

Gemessen am Sortiment, den etwa 1.500 Mustervorlagen an Stoffen aus Italien, England oder Schottland, ist man jedenfalls das letzte Tuchhaus dieser Art weltweit. Das essenzielle Modezubehör nicht zu vergessen, die Hundertschaften von Krawatten und Tüchern, vornehmlich aus Seide, oder auch Socken und Stutzen. Nach Maß gefertigte Anzüge lassen hier sowohl krumme Rücken als auch Bauchansätze nahezu verschwinden. Kurz und gut: Hier wird Tradition verkauft, kein Zeitgeist, wie es Georg Gaugusch formuliert.

Vierte Generation

Er führt das seit 1881 am Albertinaplatz ansässige Unternehmen, das sein Urgroßvater 1942 aus einer Insolvenz erwarb, in nunmehr vierter Generation. Am 2. November 1866 hat der bis heute im Geschäftsnamen präsente Wilhelm Jungmann seinen Betrieb beim Wiener Handelsgericht protokollieren lassen. 1881 erfolgte auch die Ernennung zum k. u. k. sowie zum italienischen Hoflieferanten. Letzteres Privileg hatte Jungmann, der bis in die 1930er-Jahre auf Damenstoffe und Accessoires spezialisiert war, bis zum Ende der italienischen Monarchie 1945 inne.

Fünf Jahrzehnte später tüftelte eine Gruppe Wiener Geschäftsleute am Projekt einer K.-u.-k.-Hoflieferanten-Ausstellung, die 1996 im Schloss Schönbrunn stattfinden sollte. Georg Gaugusch, der gerade seinen Präsenzdienst beim Bundesheer absolviert hatte und – eher aus Ratlosigkeit denn aus Überzeugung – Technische Chemie studierte, stand vor einem Problem. Denn das erhaltene Archivmaterial, etwa die Auftragsbücher, eignete sich nur bedingt dazu, eine Firmengeschichte zu erzählen.

Ein staubiger Sommer im Depot

"Weder hatte ich einen Überblick über die beteiligten Personen und über deren Verhältnisse zueinander, noch wusste ich Details über Kunden, Waren oder Geschäftsgebarung." Das Erstellen von Genealogien der beteiligten Familien Jungmann und Dukes, Letzterer der Neffe des Gründers, war neben der Auswertung der von 1880 bis 1942 erhaltenen Buchhaltung unerlässlich. Es folgte ein Sommer zwischen staubigen Regalen im Depot des Wiener Stadt- und Landesarchivs, wo die Bestände der ehemaligen Gewerbssteuer-Registratur und des Merkantil- und Wechsel-Gerichts lagerten.

Die Firmengeschichte war längst verfasst, die Begeisterung, den Dingen auf den Grund zu gehen, sollte jedoch bleiben. Denn bei der Bearbeitung der Kundenbestelllisten und Auftragsbücher hatte sich eine faszinierende Lücke aufgetan. Die aristokratischen Damen der Wiener Gründerzeitgesellschaft waren gut dokumentiert, und die Klientinnen des christlichen Bürgertums ließen sich etwa über die Partezettel-Sammlung der Heraldisch-Genealogischen Gesellschaft finden.

Historische Kirchenbücher

Indes fanden sich keine Hinweise zur Gruppe der Kundinnen großer jüdischer Familien, die in der kurzen ökonomischen Blüte der Gründerzeit zu Geld und Einfluss gelangt waren. Das Verhängnis nahm gewissermaßen seinen Lauf. Die Digitalisierung von Archivbeständen war noch Jahre entfernt, weshalb es historische Kirchenbücher, Mikrofilme und andere Quellen zu durchforsten galt. Auch Grabinschriften wurden erfasst, denn für Ahnenforscher ist der Friedhof der Anfang, nicht das Ende aller Dinge.

Dass Georg Gaugusch und seine Ehefrau, die Historikerin Marie-Theres Arnbom, sogar ihre Hochzeitsreise teils auf jüdischen Friedhöfen verbrachten, mag etwas verwundern. Wer den 42-Jährigen kennt, weiß auch um seine Passion, der er nach wie vor tagtäglich bis zum mittäglichen Dienstantritt bei Jungmann & Neffe frönt.

30 Schuhkartons voller Karteikarten

Das mittlerweile gesammelte Material hat stattlichen Umfang, allein die Karteikarten füllen etwa 30 Schuhkartons, schätzt Gaugusch. 2011 erschien im Amalthea-Verlag unter dem Titel "Wer einmal war" der erste, die Buchstaben A bis K umfassende Band des genealogischen Lexikons des jüdischen Großbürgertums Wiens von 1800 bis 1938. Nun liegt seit kurzem der zweite Band (L-R) vor, der, wie schon beim ersten, nicht nur von Historikern längst bearbeitete bekannte Vertreter berücksichtigt, sondern auch in Vergessenheit geratene. Darunter Großgrundbesitzer und Fabrikanten, Eisenbahnmagnaten und Großhändler, Advokaten ebenso wie Bankiers, Zeitungsherausgeber oder Wissenschafter samt deren Verwandtschaft.

Die dichten, Europa umfassenden Familiengeflechte der Rothschilds finden sich ebenso im aktuellen Band wie jene der Mautners. Dazu gehören aber auch vergleichsweise Unbekannte wie die 1913 in den Adelsstand erhobene Neumann von Ditterswaldt, jüdisch-böhmische Textilfabrikanten.

Raubzug der Nationalsozialisten

Der bekannteste Vertreter war Richard Neumann, dessen eigentliches Interesse der Kunst galt. Gemeinsam mit seiner Frau Alice besaß er eine der bedeutendsten Kunstsammlungen Wiens, die den Raubzug der Nationalsozialisten nicht überstand. Gaugusch: "Daran, dass wir ihm den Erhalt des Porzellankabinetts, das sogenannte Dubsky-Zimmer, verdanken, erinnert nichts mehr."

1913 gelangte die Kostbarkeit in den Bestand des Museums für angewandte Kunst. Konsequent wirkt Gaugusch mit seiner Arbeit der Auslöschung aus dem kollektiven Gedächtnis entgegen und bittet hierzulande teils Vergessene vor den Vorhang, etwa den im angloamerikanischen Raum überaus verehrten Wirtschaftswissenschafter Ludwig von Mises.

Wesentliche Grundlagenforschung

Hinter all den systematisch zusammengefassten Stammbäumen, den Namen, Geburts- und Sterbedaten warten Geschichten, die vielleicht gar nie geschrieben werden. Von außen betrachtet mag es wie eine spröde Datensammlung wirken, tatsächlich handelt es sich jedoch um eine für Historiker wesentliche Grundlagenforschung.

Ihr Wert ist ungleich höher als jene 4,4 Kilogramm, die die 3.800 Seiten der beiden Bände auf die Waage bringen. Die Arbeiten zum dritten Band (S-Z) hat Georg Gaugusch längst begonnen. 2020 soll die Rekonstruktion der Genealogien des jüdischen Großbürgertums Wiens und damit zeitgleich die Geschichte eines wesentlichen Bestandteils des Kultur-, Geistes- und Gesellschaftslebens abgeschlossen sein. (Olga Kronsteiner, 10.12.2016)