Düringers Wutrede

Karl Arsch

Wotan (Vladimir Baykov) und Brünnhilde (Mona Somm) in einer Inszenierung von Wagners "Die Walküre" im Rahmen der Festspiele Erl in Tirol.

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Jude Law als machthungriger Pontifex in "The Young Pope".

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Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht ein Artikel in einem Medium erscheint, dessen Titel ein Wut-Kompositum enthält. Ist tatsächlich eine "Revolution der Wütenden"1 im Gange? Wutbürger, ein 2010 geprägter Neologismus2, der prompt zum Wort des Jahres gekürt wurde, findet sich bereits als Eintrag im Online-Duden. Ein Wutbürger ist einer, der "aus Enttäuschung über bestimmte politische Entscheidungen sehr heftig öffentlich protestiert", gegen das bestehende System aufbegehrt und seinen Unmut über politische Entscheidungen demonstrativ zum Ausdruck bringt.

Jetzt, Ende 2016, zeigt der Wutbürger schamlos seine Fratze. Er macht von seinem Wahlrecht Gebrauch und wird zum Wutwähler3. Auch Roland Düringers Wutrede hat medial Wellen geschlagen. Er wiederum verweist auf das 2011 erschienene Buch von Rahim Taghizadegan und Eugen-Maria Schulak "Vom Systemtrottel zum Wutbürger".

Aufschrei und Wut in der Gesellschaft sind keine unbekannten Phänomene. So machte in den 1960er-Jahren in Großbritannien eine Gruppe von Schriftstellern von sich reden, die sich "Angry Young Men" nannte und sich mit den Unterprivilegierten solidarisierte.

Wut ist eine der Basisemotionen, und Wut ist auch ein interessantes Wort. Stinkwütend. Ein Wutanfall. Völlig die Beherrschung verloren. Zerstörungswut. Raserei. Eine Mordswut. Etwas in Trümmer schlagen. Wutschnaubend von dannen ziehen. Wir haben Wut im Bauch. Aufgestaute Wut. Kann sich jäh entladen. Dann schäumen, schreien oder kochen wir vor Wut. Weil wir nicht gesehen, nicht gehört werden. Weil uns jemand gekränkt hat.

Wussten Sie, dass Wotan, dem der englische Mittwoch seinen Namen verdankt, dem Wortsinn nach ein Wüterich ist? Denn in Wednesday (altenglisch Wōdnesdæg) steckt kein Geringerer als dieser als unberechenbar verschriene heidnische Gott Wōden. Altnordisch heißt er Óðinn, altsächsisch Wōdan und althochdeutsch Wuotan. Ein kriegerischer Gott, ein Gott der Weisheit und Runenmagie, der Ekstase und des Todes.

In Richard Wagners "Ring der Nibelungen" dürstet es Wotan nach Macht, und im zweiten Merseburger Zauberspruch renkt Wotan das Bein eines Pferdes ein, indem er eine Beschwörungsformel spricht.

Die Grundbedeutung der indogermanischen Wut-Wurzel *ṷāt- ist "heftig seelisch-leiblich erregt sein"4. Germanisch *wōd-az "erregt" ist als altenglisch wōd "Eifer und Wut" belegt. Gotisch bedeutet das Adjektiv wōÞs/wōds "wütend", althochdeutsch/mittelhochdeutsch wuot ist "Raserei, Wut, Verrücktheit, Wahnsinn".

Schon in althochdeutscher Zeit gab es den "Homo furiosus". Denn wuotenti, das Partizip I von wuoten "rasen, wahnsinnig sein", übersetzte in alten Glossaren allerhand lateinische Wörter, u.a. acer "heftig", amens "außer sich, von Sinnen", calens "entflammt, eifrig", furibundus "begeistert, wuterfüllt", furiosus "wütend", phreneticus "geisteskrank, besessen", pestilens "krank". Nun gibt diese Vielfalt der Übersetzungsmöglichkeiten einige Nuancen wieder, die in der Wut stecken, der blinde Kontrollverlust im Affekt ebenso wie das übergroße Ausmaß an psychischer Vulnerabilität.

Wenn wir uns noch einmal die indogermanische Wurzel *ṷāt- vergegenwärtigen, dann mag es eine Überraschung sein, wenn wir als außergermanischen Abkömmling lateinisch vātēs "Weissager, Seher, Prophet, Sänger, Dichter" vorfinden.

Ein weiteres Puzzleteilchen entdecken wir bei den Kelten, denn sowohl die Bezeichnung als auch die Funktion eines vātēs haben die Römer von den Kelten übernommen. In der keltischen Gesellschaft gab es drei Klassen von sogenannten "Inspirierten" (= Angehauchten), die eine hohe Stellung innehatten, die druides (Druiden), die vātēs (Seher) und die bardi (Barden, Dichter). Nun beruht die prophetische Gabe der Seher, das ist leicht vorstellbar, auf einer starken inneren Bewegtheit. Seher reagierten vielleicht wie Seismografen auf jede innere Gefühlsregung aufgrund einer erhöhten Sensibilität.

Und ich sag’s gleich vorweg: Vatikan ist eine Ableitung von vātēs. Und unter dem Vatikanischen Hügel am rechten Ufer des Tiber, da brodelt’s gewaltig. Hier dürfen wir Reste einer alten Kultstätte vermuten.

Die Vatikanstadt ist der kleinste allgemein anerkannte Staat der Welt, hat die niedrigste Einwohnerzahl, und auch die Amtssprache Latein ist ein Kuriosum. Ihr Name geht auf den Vatikanischen Hügel zurück. So weit, so gut. Die Bezeichnung Vatikan erschließt uns aber mehr als seine geografische Lage. Wir tragen ein paar Schichten des Hügels ab und schürfen tiefer und fügen in archäologischer Kleinarbeit die Puzzleteilchen zu einem vollständigen Ganzen zusammen.

Bereits 200 vor Christus war der mons Vāticānus das Zentrum eines Mysterienkultes, in dem die Göttin Kybele und ihr Geliebter Attis verehrt wurden. Die Anbetung dieser Muttergöttin war in Phrygien (eine Region in der heutigen Türkei), in Griechenland und Rom verbreitet. Im Vatikanischen Museum sind Altäre dieses Kultes zu besichtigen, die man bei der Erweiterung des Petersdomes Anfang des 17. Jahrhunderts bei Ausgrabungen zutage förderte. Die Vermutung liegt nahe, dass unter dem Dom einst ein Grottenheiligtum war, eine berühmte kultische Stätte. Bingo.

Kleiner Exkurs. Wir schalten den Fernseher ein. Auf Sky-On-Demand läuft die TV-Serie "The Young Pope". Der italienische Filmemacher Paolo Sorrentino packt ein heißes Eisen an. Lenny Belardo, verkörpert von Jude Law, befindet sich als Papst Pius XIII im Spannungsfeld zwischen traditionellem Amtsverständnis und persönlicher Machtgier, zwischen Demut und Barmherzigkeit und der Dreistigkeit, althergebrachte Spielregeln zu brechen. So ein machthungriger Pontifex, ein Schönling noch dazu, das könnte auch heftige Emotionen bei den Kardinälen auslösen, vielleicht so was Ähnliches wie Wut. Wut, die unterdrückt werden muss. Denn der Zorn (lateinisch ira) ist eine der sieben Hauptsünden.

Sowohl Wotan als auch einem vātēs wurden magische Kräfte zugeschrieben. Und ein bisschen was von diesem Zauber finden wir noch in den lateinischen Ableitungen vāticinātio "Weissagung" und vāticinor "prophezeien, verkünden, schwärmen, träumen", die bis heute in italienisch vaticinare "weissagen" und vaticinio "Weissagung" weiterleben.

Und was tun viele von uns zu Silvester? Bleigießen. Wir lassen unsere Fantasie spielen beim Deuten der in Wasser erkalteten bizarren Zinnformen und treffen eine Vorhersage für die Zukunft.

Das Jahr 2016 geht zu Ende. Don’t look back in anger!5 (Sonja Winkler, 12.12.2016)