Sie räumten mit dem Film "Toni Erdmann" in Wroclaw ab: Schauspielerin Sandra Hueller, die deutsche Regisseurin Maren Ade und Peter Simonischek beim Europäischen Filmpreis.

Foto: APA/AFP/JANEK SKARZYNSKI

Wroclaw ist die Stadt der Zwerge. Überall stehen sie herum, auf Gehwegen, in den Parks, an Straßenecken. Zu Beginn war es nur einer, doch bald erreichten sie ein für Zwerge untypisches Ausmaß – sie waren nicht mehr zu übersehen. Wer sich mit der jüngeren Geschichte der europäischen Kulturhauptstadt 2016 beschäftigt, erfährt, warum: In den 1980ern schlüpfte man zwecks Kritik am kommunistischen Regime gerne in ein Zwergenkostüm und platzierte einen ersten gusseisernen Wicht in der historischen Altstadt. Dieser Tage hat ihre Zahl die Dreihundertermarke überschritten, wenngleich nicht als Zeichen des Protests gegen die rechtspopulistische Regierung in Warschau.

In der polnischen Universitätsstadt, die bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs Breslau hieß, ist die Zwergensaat Touristenattraktion. Und wenn zuletzt noch ein paar Leute mehr über ebendiese gestolpert sind, dann lag das daran, dass am Samstag hier der Europäische Filmpreis verliehen wurde. Jedes zweite Jahr lagert die in Berlin ansässige Akademie die Zeremonie in die jeweilige Kulturhauptstadt aus, also traf man sich in Niederschlesien. Wer diesen Preis als europäische Ausgabe des Oscars ansieht, hat nur irgendwie recht.

Denn erstens hat der Europäische Filmpreis außer diesem keinen Namen, er generiert ein wenig weniger Aufmerksamkeit, und er lässt sich im Gegensatz zum amerikanischen Vetter kaum in bare Münze umrechnen. Zur Erinnerung: Bester europäischer Film 2015 wurde "Ewige Jugend" von Paolo Sorrentino.

Eine klare Sache

Dass sich diesmal in der Königsdisziplin eine der Filmgroßmächte Deutschland, Frankreich und Großbritannien durchsetzen würde, damit war zu rechnen, denn Pedro Almodóvars "Julieta" wurden ebenso höchstens Außenseiterchancen eingeräumt wie dem kanadisch-irischen Drama "Room", das sich mit einem Oscar für seine Hauptdarstellerin Brie Larson einen Namen gemacht hatte.

Wobei es aufgrund der europäischen Koproduktionsgepflogenheit ohnehin nur darum gehen konnte, welches Tandem am Ende die Nase ein wenig höher würde tragen dürfen: französisch-deutsch ("Elle"), britisch-französisch ("I, Daniel Blake") oder deutsch-österreichisch ("Toni Erdmann")? Dass die Nominierungen für die beste Regie mit jenen für den besten Film praktisch identisch waren, untermauerte indessen einmal mehr die unbedingte Vormachtstellung eines Autorenkinos, die Regieleistung und Filmergebnis gleichsetzt.

In der vom polnischen Schauspieler und Comedian Maciej Stuhr galant moderierten Gala im Nationalen Forum für Musik, einem 2015 errichteten Konzerthaus, war jedoch von Anfang an klar, dass es diesmal nur einen Sieger wird geben dürfen: das Europäische. Noch nie dominierte die Politik – vom demonstrativen Entrollen der Europaflagge über das Brexit-Bashing bis zu Zbigniew Preisners live vorgetragenem Chorwerk "Song for the Unification of Europe" – derart die Zeremonie. Mitunter hatte man das Gefühl, jeder auf der Bühne stünde vor dem Schreckgespenst des Nationalismus bereits mit dem Rücken zur Wand. Vielleicht war auch deshalb eine darauf hinweisende Stimme, dass die vielbeschworene Diversität des europäischen Films nur das Ergebnis starker nationaler Kinolandschaften sein kann, nicht zu vernehmen.

Keine Hoffnung

Die Preise selbst brachten am Ende keine Überraschungen und schon gar keine Diversität: Maren Ades mit fünf Nominierungen ins Rennen gegangene Tragikomödie "Toni Erdmann" fuhr ebenso viele Siege in allen Hauptkategorien – darunter Peter Simonischek als bester Schauspieler – ein und ließ Ken Loachs Cannes-Gewinner "I, Daniel Blake" – ohnehin mit dem Stigma einer "Fehlentscheidung" belastet – leer ausgehen.

Fast hatte man den Eindruck einer Wiedergutmachung. Dass Isabelle Huppert, die heuer mit "L'Avenir" und "Elle" (ab 3. Februar im Kino) grandiose Darbietungen bot, und Regisseur Paul Verhoeven gar nicht anreisten, ließ diesbezüglich ohnehin keine Hoffnung aufkommen. Ebenso vorhersehbar war der Preis für den besten Dokumentarfilm an Gianfranco Rosis "Fuocoammare" über den Alltag auf Lampedusa. In seiner Dankesrede meinte Simonischek, dass er, da abergläubisch, keine solche vorbereitet habe – zu viele geschriebene seien im Lauf der Jahre nicht zum Einsatz gekommen. Diesmal wären die Chancen gut gestanden, den Aberglauben zu besiegen. Doch besser, ein Preis und keine Rede, als umgekehrt. (Michael Pekler aus Wroclaw, 12.12.2016)