Auf dem Weg zum Präsidialsystem: Tayyip Erdoğan.

Foto: AFP / Adem Altan

Einhellig haben Regierung und Opposition in der Türkei den neuen Terrorakt verurteilt. Auch die prokurdische Minderheitenpartei HDP, deren Führung bereits im Gefängnis sitzt, zusammen mit acht weiteren Abgeordneten, stellte sich mit klaren Worten dagegen. Doch zugleich ist allen im Parlament bewusst, dass das Land nun an einer Wegscheide steht. Die "Zeit der Verwirrung" werde zu Ende gehen, so sagt Binali Yıldırım voraus und meint damit das Nebeneinander von Präsident und Premier.

Der Regierungschef hat als einfacher Abgeordneter aus Izmir am Samstag den Gesetzesentwurf zur Verfassungsänderung eingebracht. 21 Artikel, die Tayyip Erdoğan zum Chef machen, zum Führer der Exekutive. 140 Jahre Parlamentarismus in der Türkei stünden auf dem Spiel, warnte Kemal Kiliçdaroğlu, der Vorsitzende der größten Oppositionspartei, der sozialdemokratischen CHP; eineinhalb Jahre lang, während des kurzen Zwischenspiels einer konstitutionellen Monarchie, hatte auch das Osmanische Reich zwischen 1876 und 1878 Senat und Abgeordnetenkammer.

Premier hat ausgedient

Es sei auch nicht wahr, dass der Grundbestand der türkischen Verfassung – die ersten vier Artikel – von den geplanten Änderungen nicht betroffen wäre, wie die Regierung behaupte, so erklärte Levent Gök, der Klubobmann der CHP im Parlament: Mit der demokratischen Republik wie mit dem Laizismus sei es vorbei, sollte Erdoğan seine Verfassung bekommen.

Der Vorschlag der konservativ-islamischen AKP, die seit nun 14 Jahren an der Macht ist, sieht einen Übergang von einem parlamentarischen zum präsidialen System vor. Erdoğan soll künftig allein an der Spitze stehen, einen Premier gibt es nicht mehr, auch nicht länger den Grundsatz der Unparteilichkeit: Erdoğan darf wieder seine AKP führen. Zwei Vizepräsidenten will er aber als hervorgehobene Amtsträger an seiner Seite haben.

Regieren per Dekret

Vor allem aber soll der Staatschef künftig die Möglichkeit haben, am Parlament vorbei per Dekret zu regieren. Das tut Erdogan jetzt bereits, gestützt auf die Regeln des seit Juli geltenden Ausnahmezustands nach dem Putschversuch. Zwölf umfangreiche Dekrete erließ Erdoğan bisher. Die Große Türkische Nationalversammlung, wie das Parlament offiziell heißt, kann über sie erst im Nachhinein debattieren.

Zugeständnisse hat die AKP an die rechtsgerichteten Nationalisten der MHP von Devlet Bahçeli gemacht. Auf deren Stimmen ist sie bei der Verfassungsänderung angewiesen. So wird das Parlament um 50 Sitze auf 600 vergrößert – das gibt den Nationalisten mehr Chancen für den Verbleib bei der nächsten, fortan gemeinsamen Wahl von Parlament und Präsident im November 2019.

Ruf nach "starkem Mann"

Bahçeli soll sich auch eine weitere Änderung ausbedungen haben: Für die Aufnahme eines Amtsenthebungsverfahrens des Präsidenten vor dem Staatsgerichtshof soll eine Zweidrittelmehrheit im Parlament genügen. Die AKP wollte ein Quorum von vier Fünfteln, um Erdoğan zu schützen. Das Höchstgericht gilt allerdings – wie alle anderen Zweige der oberen Justiz – als fest in der Hand der Regierung. Künftig soll der Staatspräsident auch einen noch größeren Teil der Richterposten besetzen dürfen.

Eine Hürde auf dem Weg zur neuen Verfassung gibt es aber noch: Werden die Änderungen im Parlament angenommen, müssen sie dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden – voraussichtlich im Mai nächsten Jahres. Noch scheint eine knappe Mehrheit der Türken einem Erdoğan-Staat zu misstrauen. Die fortgesetzten Terroranschläge aber lassen den Ruf nach einem "starken Mann" nur lauter werden. (Markus Bernath, 12.12.2016)