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Tayyip Erdoğan baut den türkischen Staat um.
Am Tag nach der "nationalen Mobilmachung" rätseln die Türken, was ihr Staatschef nun tatsächlich vorhat: Einziehung von Zivilisten zum Militär, Beschlagnahmung von Unternehmen und anderem Privateigentum? Oder ist alles nur Show, ein verzweifelter Versuch Recep Tayyip Erdoğans, nach dem jüngsten Terroranschlag in Istanbul Tatkraft zu demonstrieren?
Im Amtsblatt der Republik steht am Donnerstagmorgen nichts von der Mobilisierung. Kein neues Dekret ist veröffentlicht worden, seit der Präsident am Vortag in einer Rede diesen radikalen Schritt verkündet hat. Doch für Mittag hat Erdoğan den Sicherheitsrat zu sich in den Palast in Ankara einberufen. Nach der üblicherweise mehrere Stunden dauernden Sitzung der Führung von Armee, Geheimdienst und Regierung unter Leitung des Präsidenten ist eine Erklärung über die nationale Mobilmachung zu erwarten. Sie galt in der Türkei im Ersten Weltkrieg und während des anschließenden Befreiungskriegs bis zur Gründung der Republik 1923.
Historische Vergleiche
Mit dem Befreiungskrieg gegen Russland und die westlichen Mächte vergleicht Erdoğan auch heute zur Verwunderung mancher Bürger die Lage im Land. Seit der Verhängung des Ausnahmezustands vor fünf Monaten regiert der Präsident ohnehin allein mit Dekreten. Für den Kampf gegen den Terrorismus erkläre er nun, gestützt auf den Artikel 104 der Verfassung, die Mobilisierung der Nation, sagte Erdoğan am Mittwoch. Artikel 104 legt die Kompetenzen des Präsidenten im offiziell noch geltenden parlamentarischen System der Türkei fest; der Begriff der "Mobilisierung" taucht dort allerdings nicht auf. Er ist in einem Gesetz aus dem Jahr 1983 geregelt, geschrieben von den damals erfolgreichen Putschgenerälen.
Der Beschluss der Mobilmachung muss demnach im Amtsblatt veröffentlicht und noch am selben Tag dem Parlament vorgelegt werden. Staatschef und Regierung beauftragen Befehlshaber mit der "Herstellung der allgemeinen Sicherheit, der Ruhe und der öffentlichen Ordnung". Konkret genannt werden die Sicherung von See- und Flughäfen sowie die Suche nach "Agenten, die subversive Aktionen ausführen", wenn nötig auch mit Unterstützung von "Hilfskräften" – eine Umschreibung für Bürgerwehren. Erdoğan rief in seiner Rede am Mittwoch die Bevölkerung auf, Verdächtige den Behörden zu melden. Kurden befürchten nun Akte der Selbstjustiz auf den Straßen. Bereits nach dem vereitelten Putsch im Juli hatte ein Erdoğan-Berater auf die Bewaffnung der Bevölkerung gedrängt, um die Demokratie zu verteidigen.
Bei dem Anschlag von zwei Selbstmordattentätern nach einem Fußballspiel im Beşiktaş-Stadion in Istanbul waren am Samstag 44 Menschen getötet worden, 36 von ihnen waren Polizisten. Eine Splittergruppe der kurdischen Untergrundarmee PKK bekannte sich zu der Tat. Die Identität der beiden Attentäter soll mittlerweile feststehen, wurde aber nicht öffentlich gemacht. Die Terroristen seien aus Syrien gekommen, gab Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu an.
Jubel in Regierungsmedien
Regierungsmedien feierten am Donnerstag die Ausrufung der "Mobilmachung", ohne aber sagen zu können, was sie bedeutet. Levent Gültekin, ein vielbeachteter islamischer Intellektueller, der als Kritiker der Prunksucht und autoritären Wende der AKP-Herrschaft hervorgetreten ist, wirft der politischen Führung auch diesmal Versagen vor. Mit der Ankündigung von noch mehr Druck gieße die Regierung nur Öl ins Feuer des Terrorismus, schrieb Gültekin in dem Nachrichtenportal "Diken". "Die Terroristen fallen nicht vom Himmel. Diejenigen, die sich der PKK und dem Islamischen Staat anschließen, sind Kinder dieses Landes", stellt Gültekin fest. Die Lösung sei mehr Demokratie in der Türkei, rät er den Regierenden: "Ihr führt dieses Land, nicht die Terrororganisationen. Für jede Katastrophe, die kommt, für jeden Menschen, der stirbt, tragt auch ihr Verantwortung."
Ein weiterer Parlamentsabgeordneter der HDP, der kurdisch-alevitische Politiker Alican Önlü, wurde am Mittwoch festgenommen. Damit sind nun zwölf der 59 Abgeordneten der Partei im Gefängnis. Strafverfahren wegen angeblicher Unterstützung terroristischer Organisationen laufen gegen nahezu alle Mitglieder der Fraktion. (Markus Bernath, 15.12.2016)