Vor vier Jahren haben wir das Buch Die Integrationslüge. Antworten in einer hysterischen Auseinandersetzung verfasst. Wir waren auf der Geburtenstation, bei Abwäschern im Restaurant, in den Schulen und unterwegs mit "harten Jungs", bei Straßenzeitungsverkäufern, auf Spurensuche von Berlin über die Schweiz nach Österreich. Aufgefallen sind uns all die Irrtümer, die die Probleme weiter verfestigen und vertiefen: die Verwechslung von Relativismus mit Toleranz, die Politisierung von Identität und Religionszugehörigkeit, die Kulturalisierung sozioökonomischer Fragen und die Ignoranz gegenüber den (Status-)Kränkungen und Ohnmachtsgefühlen der Bevölkerung. Heute ist die Auseinandersetzung nach den Fluchtbewegungen aus dem Nahen Osten hysterischer denn je. Der "Notstand" wird ausgerufen, die Internetforen gehen schier über vor Hetze und Hass, ein autoritärer Nationalismus rückt ein soziales und demokratisches Europa in die Ferne, die politische Debatte findet sich an der Identitätsfront wieder.

Ein Widerspruch fällt in diesem Zusammenhang besonders auf: Während Menschenrechte im Kontext von Asyl zunehmend ausgehebelt werden und soziale Grundrechte bei den ärmsten zehn Prozent unter Druck kommen, wird in fast jeder Diskussion, in beinahe jeder Rede, in jedem zweiten Zeitungsartikel auf "unsere Werte" gepocht. Gleichzeitig werden ethische und moralische Haltungen wie Empathie, Anerkennung oder Gleichbehandlung diskreditiert, aber "Werte" eingefordert und hochgehalten. Eine irritierende Entwicklung: Je mehr über Werte gesprochen wird, desto weniger scheinen verfassungsrechtlich verankerte Menschenrechte eine Rolle zu spielen.

Niederösterreich erließ ein Gesetz zur Streichung der Mindestsicherung bei Flüchtlingen, versteckte aber darin die Kürzung des Wohnens bei Menschen mit Behinderungen. "Flüchtlinge" wird gesagt, aber gestrichen wird dann beim Wohnen für alle, auch für alle Österreicher. So funktioniert das. Oder die sogenannte Deckelung bei Familien. Asyl wird gerufen, dann aber die Mindestsicherung für alle Kinder gestrichen – mit allen negativen Folgen für die Betroffenen, aber auch für uns alle, die wir keine Zunahme der Armut wünschen. Die Flucht von außen nach Europa wird innen zur sozialen Desintegration genützt und missbraucht.

Blick in die Steiermark: Dort wurde gerade die Wohnbeihilfe in ei- ne "Wohnunterstützung" umgewandelt. Das Ergebnis ist eine massive Kürzung, viele fallen überhaupt aus der Unterstützung heraus. Besonders stark betroffen sind Mindestpensionisten und Menschen mit Behinderung. Diese Wohnbeihilfenkürzer sind übrigens dieselben, die gerne über die geringen Einkommen von Mindestpensionisten ihre öffentlichen Tränen vergießen. Das Mitgefühl dauert aber nur an, solange es darum geht, sie gegen Flüchtlinge auszuspielen.

Zu einem eleganten Trickdieb gehört ja auch immer einer, der blendet und ablenkt, während er die Brieftasche stiehlt. Was ist von einer Wertedebatte zu halten, die soziale Grundrechte missachtet und Armut erhöht? Auf diese Wunde hat auch das Europaparlament seine Finger gelegt. Viele der von der Troika aufgezwungenen Maßnahmen in Griechenland oder Spanien stehen in klarem Konflikt mit europäischem Recht, insbesondere der Sozialcharta. Dazu gehören verschlechterte medizinische Versorgung samt höherer Kindersterblichkeit, Schließen von Schulen oder der starke Rückbau des Lohntarifsystems.

Wird über Werte gesprochen, um über Menschenrechte zu schweigen? Es gibt Hinweise. Der Begriff der Werte kommt nicht aus der Ethik, sondern aus der Ökonomie. Der Wert gibt das Gewicht an, das wir einem Gegenstand zuerkennen, wie wir ihn bewerten, mit wie viel Geld wir ihn aufwiegen. Das übliche Maß für Werte ist der Preis.

"Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine Würde", formulierte der Königsberger Philosoph Immanuel Kant. Und sein Wiener Kollege Konrad Paul Liessmann ergänzt: "Die Suche nach Werten, die Frage, wo sich Werte bilden, die Behauptung, es müsse eine Werterziehung geben, die Interpretation der Menschenrechte als Werte, die ideologische Rede von Wertgemeinschaften: All das deutet an, dass man an der Würde des Menschen kein Interesse mehr hat, sondern im Begriff ist, seine Präfererenzen und die zugrunde liegenden zweckorientierten Wertmaßstäbe durchzusetzen". Der Wertebegriff droht die Würde des Menschen zu einem Spekulationsobjekt zu machen. (Eva Maria Bachinger, Martin Schenk, 15.12.2016)