Das ORF-"Bürgerforum": Sudern im Hauptabendprogramm.

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Es ist ja doch immer alles eine Frage der Kränkung. Irgendjemand fühlt sich immer übergangen, zu wenig oder gar nicht geschätzt, nicht genügend wahrgenommen, und empört sich. Sudern nennt man das auf Österreichisch. Befindlichkeiten im Feuilleton.

Befindlichkeiten muss man sich leisten können. Wer ums Überleben kämpft, dem fehlt meist die Zeit dafür, sich aufzuregen. Wer nichts hat, hat keine Zeit zum Jammern, pflegte meine Kärntner Oma zu sagen. Und sie wusste, wovon sie sprach. Sie hat selten gejammert. Sie war zu sehr damit beschäftigt, mit den spärlichen Einkünften als Standlerin auf den Wochenmärkten in der Umgebung ihrer Ortschaft zu überleben. Nur eines konnte ihr Blut in Wallung versetzen: wenn das Fleisch des Festtagbratens eine zu dünne Fettschicht hatte. Fett war ihr wichtig. Da hat selbst die Oma gesudert.

Natürlich waren das andere Zeiten. Doch man muss nicht so weit zurückgehen, um über die aktuellen Befindlichkeiten im Land verblüfft zu sein. Es genügt, einen Blick ins Nachbarland zu werfen. Nach Italien zum Beispiel. Ich komme eben aus Rom zurück. Es war mein fünfter Besuch in diesem Jahr. Es ist kalt in Rom. In manchen Häusern kälter als auf der Straße, wenn die Sonne scheint. Das hat viele Gründe. Die schlechte Isolierung der meist sehr alten Wohnhäuser. Das Fehlen jeglicher Heizkörper in manchen, in denen man sich im Winter mit stromfressenden kleinen Heizstrahlern behilft. Es sei völlig normal, berichtete eine Bekannte, dass man bei Familientreffen zu Weihnachten Wolldecken an die Besucher austeilen würde. Man habe sich an die zugige Kälte gewöhnt. Auch in vielen Lokalen wird nicht ausreichend geheizt. Den Römern ist es egal. Sie lassen beim Essen einfach ihre Mäntel an. Oder setzen sich gleich an die Tische vor der Tür. Selbst wenn dort keine Heizpilze stehen. Schließlich lässt man sich die Lebensfreude nicht von der Kälte verderben. Niemand jammert.

Frieren in den Bussen

Auch in den Bussen kann man sich kaum aufwärmen. Im Gegenteil. Oftmals ist sogar eines der Fenster geöffnet, weil der stickige Geruch im Inneren unangenehmer ist als die Kälte. Die Busse sind nämlich meistens überfüllt, denn sie fahren nicht nach Plan. Es gibt nämlich keinen. Sie kommen, wenn es der römische Verkehr zulässt. Und das kann an einem Feiertag dauern. So trifft man an einem Sonntag an den Haltestellen der beliebten Ausflugsziele wie der Villa Borghese Familien mit kleinen Kindern, die auf und nieder springen, weil sie frieren. Und der Bus schon seit 30 Minuten auf sich warten lässt.

Die Römer nehmen das alles mit einer Mischung aus Resignation und Gelassenheit. Sie haben größere Sorgen als die Busfahrpläne, die schlecht geheizten Wohnungen oder die Müllberge, die sich vor Lokalen in Monti türmen, weil die Müllwagen wieder einmal nicht gekommen sind.

In meinem Lieblingsgrätzel hat seit meinem letzten Besuch eine neue Bar eröffnet. Die beiden Besitzer sind in meinem Alter und stammen aus Rom und Neapel. Einer von ihnen hat Wirtschaft studiert, der andere hat im Friseurgeschäft seiner Eltern gearbeitet. Die Bar liegt in einer belebten Gasse des Viertels und ist jeden Tag bis spät in die Nacht voll. Touristen und Einheimische drängen sich auf den gemütlichen alten Sofas, es gibt guten und günstigen Wein und Spezialitäten von Bauern aus Süditalien, die ebenfalls leistbar sind.

Doch das Lokal ist nicht nur eine Bar von zwei Geschäftspartnern. Es ist auch ein Ort für jene ihrer Freunde, denen es nicht gutgeht. In Spitzenzeiten servieren fünf bis sechs Kellner Essen und Getränke. Ungewöhnlich viele für so eine kleine Bar. Das liege daran, dass die meisten von ihnen gar nicht hier arbeiten würden, erklärt mir einer der Besitzer. Sie hätten nämlich keinen Job, und das schon sehr lange. Aber weil sie alte Freunde seien und man schließlich zusammenhalten müsse, würden sie an manchen Abenden aushelfen. Gegen Essen und Getränke. Und für das Gefühl, beschäftigt zu sein.

"Berlusconi, Prodi oder Renzi, das ist doch egal"

"Es ist besser, als zu Hause herumzusitzen oder durch die Straßen zu ziehen. Wenn ich ein paar Touristen ein Glas Wein bringe und mit ihnen plaudere, habe ich ein gutes Gefühl", erzählt einer von ihnen, der seit drei Jahren arbeitslos ist. Außerdem sei er manchmal auch auf das Essen in der Bar angewiesen. Die Sozialleistungen der Regierung kämen nämlich oft erst mit einiger Verspätung auf seinem Konto an. Dagegen könne man nichts tun.

Wer jemals von den Amtswegen in Italien gehört hat, glaubt sich in einer Kafka-Verfilmung wiederzufinden. Da sei es gut, Freunde zu haben. Das Einzige, worauf man sich verlassen könne. "Ja", lacht der Besitzer und legt seinen Arm um seinen Freund, "wir sind wie eine Familie hier. Wir passen aufeinander auf." Der Staat, das klingt in all diesen Gesprächen deutlich durch, würde es schließlich schon lange nicht mehr tun. Da ist es nicht verwunderlich, dass der Abgang von Matteo Renzi, wenn überhaupt, nur mit einem Schulterzucken zur Kenntnis genommen wird. "Berlusconi, Prodi oder Renzi, das ist doch egal. Das Leben in Rom bleibt immer gleich hart, aber wir überleben trotzdem!", sagt einer der Barbesitzer und lächelt dabei. Kein Jammern, kein Sudern, auch hier nicht.

Szenenwechsel

Zurück in Wien kommt der Bus vor meiner Wohnung pünktlich. Die Wiese des Parks ein paar Schritte weiter ist sauber, die Mistkübel sind nicht überfüllt. Die Lokale sind angenehm warm, und auch die U-Bahn ist geheizt. Alles funktioniert. Und trotzdem ist man nicht zufrieden. Abends läuft im ORF das "Bürgerforum", ein Format, in dem sich Kanzler und Vizekanzler den Fragen von Bürgern aus dem Publikum stellen. Nur dass es sich an diesem Tag beinahe nie um Fragen handelt, sondern um Vorwürfe und unverhohlene Beschimpfungen. "Die Regierung arbeitet nix!", ruft ein empörter Mann mittleren Alters ins Mikrofon und bekommt dafür Applaus. Den konkreten Beweis für seinen Vorwurf bleibt er jedoch schuldig, so wie andere, die sich zu Wort melden. "Es wird zu viel gestritten in der Regierung. Ihr macht keine Politik für die Menschen!" Wieder Applaus für oberflächliche Phrasen, die aus dem Wahlkampf stammen könnten.

Man begegnet der Regierungsspitze mit Feindseligkeit, Unzufriedenheit und Aggression. Selbst Moderator Peter Resetarits wird es zu viel, und er fordert von den Anwesenden mehr Respekt ein. Doch die Stimmung bessert sich kaum. Fast könnte man meinen, man sei in Italien. Wo Menschen auf das Kindergeld warten, weil die Ämter wieder einmal alles verzögern. Wo Wohnungen schlecht geheizt sind und der Hausverwalter desinteressiert mit den Achseln zuckt, wenn man ihn darauf anspricht.

Aber man ist in Österreich, dem viertreichsten Land der EU, dessen Hauptstadt Wien 2016 zum achten Mal in Folge das Ranking des Beratungsunternehmens Mercer als lebenswerteste Stadt weltweit angeführt hat. Trotzdem ist da viel Wut und Ärger unter den Menschen, die im Publikum des "Bürgerforums" sitzen. Vielleicht hat der beinahe einjährige Wahlkampf um das Präsidentschaftsamt doch seine Spuren hinterlassen und den Fokus ausschließlich auf das Negative gelenkt? Ganz ähnlich argumentiert auch der Bundeskanzler Christian Kern, der in einem großen Interview im aktuellen "Falter" die allgemeine Dramatisierung der Zustände beklagt, vor allem durch die Medien. Sind also wir Journalisten schuld an der schlechten Stimmung? Weil wir aus aufmerksamkeitsökonomischen Gründen die negativen Meldungen weit vor die positiven reihen? Nach dem uralten Motto: Only bad news are good news?

Verständnis

Was jedenfalls auffiel, war, dass unter den Bürgern, die sich zu Wort meldeten, keine Alleinerzieherin war. Die sich von Monat zu Monat kämpft, um ihren Kindern und sich selbst ein menschenwürdige Existenz zu ermöglichen. Auch keiner der vielen Arbeitslosen kam vor, die jetzt in der Weihnachtszeit auf den grellbunten Einkaufsstraßen jeden Cent umdrehen müssen, um den Spagat zwischen Überleben und dem Wunsch, den Kindern Geschenke zu machen, zu schaffen. Mindestpensionistinnen, wie meine Oma eine war, saßen ebenfalls nicht im Publikum. Sie hat jedes Jahr bereits im Oktober damit begonnen, für all ihre Enkel und Enkelinnen Socken zu stricken. Damit wenigstens irgendetwas von ihr unter unserem Weihnachtsbaum lag. Sie hat nie gejammert. Nur einmal hat sie beklagt, dass die Preise für Wollknäulel gestiegen sind. Aber selbst da hat sie relativiert. "Ich kann's ja verstehen, die müssen auch von etwas leben." Vielleicht täte uns allen dieses Verständnis für andere manchmal ganz gut. Auch wenn sie Politiker sind. (Barbara Kaufmann, 16.12.2016)