Thomas Lindemann erinnert sich noch sehr gut, als er das erste Mal von seinem Vorhaben erzählt hat. "Das könnt ihr nicht machen, nicht mit Kindern!", hieß es. Oder: "Ja, ja, das ist der verdammte Berliner Mietenwucher. Jetzt müsst ihr Armen nach Neukölln gehen." Zwei Welten, eine Stadt: Weil Familie Lindemann keine passende Wohnung fand, zog sie vom schicken Berliner Prenzlauer Berg ins Migrantenviertel Neukölln – und löste damit Unverständnis und teilweise heftige Debatten aus.
"Drogendealer, Islamisten, Kinderarmut: "Bild" in Berlins neuem Brennpunkt-Kiez", "Eine Mädchen-Gang hat mich bewusstlos getreten" oder "Wir wollen keine Schläger und Junkies in unseren Schulen": Es sind Schlagzeilen wie diese, die das Bild über diesen Berliner Stadtteil verfestigen – Neukölln, der Problembezirk.
Keine Frage, hier gibt es handfeste Probleme. Aber Neukölln mit seinen rund 330.000 Einwohnern, davon 140.000 mit Migrationshintergrund, ist auch eine Chiffre für all die Schwierigkeiten, die in armen, ethnisch durchmischten Bezirken lauern. Oder wie Heinz Buschkowsky, der frühere, populistisch begabte, Bezirksbürgermeister, sein Buch über dieses Grätzel betitelt hatte: "Neukölln ist überall."
Licht- und Schattenseiten
Journalist Lindemann hat in einem Buch seine Erfahrung niedergeschrieben. In "Keine Angst, hier gibt's auch Deutsche!" (Berlin Verlag) zeigt er die Licht- und Schattenseiten seines neuen Zuhause. Und er blickt kritisch zurück auf die Mittelschicht, aus der er kommt, mitten aus Bobostan.
Wer über Neukölln schreibt, ist schnell beim Kopftuch. Während allerorts darüber gestritten wird, ist es hier kein Thema. Oder anders gesagt: Es ist Alltag. "Das ist so selbstverständlich hier. Das gehört dazu. Man hat auch nicht das Gefühl, dass die Frauen unterdrückt sind", sagt Lindemann zum STANDARD, der anderes problematisch findet: Burka und Nikab will er schon gesehen haben: "Es wird ja immer von liberalen Kräften gesagt: Was soll die Debatte, das gibt es doch kaum. Das, muss ich sagen, stimmt so aber nicht."
In seinem Buch beschreibt Lindemann, wie er beginnt, "die verschiedenen Formen des Kopftuchs einmal genauer zu studieren". Die Fragen, die ihm dabei durchs Hirn zischen, wagt er nicht zu stellen: "Plötzlich spüre ich, was dieses Unwort bedeuten könnte – ,Parallelgesellschaft'. Man lebt im gleichen Viertel nebeneinander her und kapiert einfach gar nichts." Aber, das ist nur die eine Wahrheit.
Viele Initiativen
Denn, sagt Lindemann auch: "Es gibt sehr viele Initiativen. Sie brauchen nur 50 Schritte zu gehen und schon stehen Sie vor dem nächsten Büro der deutsch-arabischen Verständigung oder der Stadtteilmütter." Seine Conclusio: "An den Orten, wo das gezielt eingefordert wird, funktioniert der Dialog. Aber automatisch passiert nicht so viel."
Dass der Bezirk arm und die Arbeitslosigkeit hoch ist, spiegelt sich auch im Straßenbild wider. "Viele Leute hängen hier auf den Straßen rum, frühmorgens sieht man schnaps- und biertrinkende Typen. Das ist zum Teil natürlich nicht schön. Das muss der Grund sein, dass Leute zu uns gesagt haben: Ihr könnt da doch nicht mit Kindern hinziehen", sagt Lindemann – und ist damit schon bei einem der kontroversiellsten Themen: Kinder und Schule. In Prenzlauer Berg gebe es "fast 100 Prozent so rein immerschon Deutsche" in den Schulen: "In Neukölln haben sie einen Migrantenanteil von 80 oder teilweise 90 Prozent."
Total peinlich
Lindemann hat seine beiden Söhne dennoch in Neukölln eingeschult. "Wissen Sie, wie oft wir gehört haben, wir seien mutig?", erzählt er: "Das ist doch total peinlich, so ein Attribut zu bekommen, dafür, dass man sein Kind einfach nur auf die Stadtteilschule schickt. Das ist eigentlich beschämend."
Die Berliner kämen nach Neukölln, weil "es so tolle Bars gibt und so viele kleine Kunstgalerien, und dann genießt man das Nachtleben. Kaum wird die Freundin schwanger, hauen die Leute ab." Verlogen nennt das Journalist Lindemann. Der Soziologe Armin Nassehi bietet einen anderen, nicht weniger ernüchternden Erklärungsansatz: "Wir reden universalistisch links, leben und verhalten uns dann aber partikularistisch rechts", sagt er zum STANDARD.
Für den Vorwurf, Bobostan sei eine "befreite Zone" hat Lindemann "viel Wut abbekommen". Er bleibt aber dabei, denn: "Früher hat sich das stark gedeckt: Die Kollegen aus dem beruflichen Umfeld waren auch die Leute, die in der gleichen Gegend wohnten, die man in der Stammkneipe traf und die auch die gute Schule ausgesucht haben. Kurz gesagt; Man hat im eigenen Saft geschmort." Heute lebe er nicht mehr in "so abgeschlossenen sozialen Zirkeln".
Dass er selbst auch Teil der Gentrifizierung ist, die auch hier immer mehr voranschreitet, bestreitet der Journalist gar nicht: "Wir sind die, die dafür sorgen, dass Bürger mit Migrantionshintergrund unter Druck geraten." Dabei sieht Lindemann schon eine Steigerung des Problems auf die Städte zukommen.
"In Berlin wird es jetzt überall teurer. Die, die früher verdrängt wurden, können nirgendwo hin und müssen sich enger zusammenfinden. Das merke ich schon im Haus, in dem ich wohne. Bei der arabischen Familie wohnen eine ganze Menge Leute in der Wohnung. Die sind überbelegt, weil sie keinen anderen Ausweg haben." Der Journalist befürchtet, dass eine derartige Zuspitzung zu Konflikten führen könnte.
Bei all den Problemen steht für Lindemann und seine Familie eines außer Streit: Wegziehen ist keine Option: "Wir bleiben!" (Peter Mayr, 18.12.2016)