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Bis Anfang November wurden in Brasilien 2033 Babys mit Mikrozephalie geboren. Mehr als 3000 Verdachtsfälle werden noch untersucht.

Foto: Reuters / Nacho Doce

Die kleine Vitória trägt ein weißes Haarband mit einer kleinen rosa Schleife und dazu ein passendes Kleidchen. Ihre Mutter Rafaela Souza hat ihr Baby die ganze Zeit auf dem Arm, drückt und liebkost es. Doch das Haarband ist nicht nur Kopfschmuck, sondern hält auch die Brille mit den starken Gläsern fest, die die Einjährige tragen muss. Vitória wurde im Oktober vergangenen Jahres mit Mikrozephalie, einer Schädelfehlbildung, geboren.

Neben neurologischen Beeinträchtigungen sind auch ihre Augen geschädigt. "In der zweiten Hälfte der Schwangerschaft haben die Ärzte entdeckt, dass ihr Kopf zu klein war und nicht mehr wächst", sagt Souza. Wie schwer die Schädigung ihres Kindes sein wird, wusste niemand. Inzwischen sind die Kinder der ersten Zika-Infektionswelle ein Jahr alt. Die Wissenschaft hat zwar Fortschritte bei der Erforschung des Virus gemacht, einen Schutz gibt es aber noch nicht.

92.000 Infizierte in Brasilien

Innerhalb eines Jahres wurden in Brasilien bis Anfang November 2033 Babys mit Mikrozephalie geboren. Die Mütter haben sich während der Schwangerschaft mit dem Zika-Virus infiziert, oft unbemerkt. Mehr als 3050 mögliche Fälle von Mikrozephalie bei Neugeborenen werden noch untersucht. Insgesamt haben sich im ganzen Land laut Schätzung des Gesundheitsministeriums mindestens 92.000 Menschen mit dem Virus infiziert – mit noch nicht absehbaren Langzeitfolgen. Bislang treten nur in etwa 30 Prozent der Fälle Beschwerden unmittelbar nach der Infektion auf.

Die Zika-Infektionen sind weltweit und auch in Brasilien in den vergangenen Monaten zurückgegangen. Inzwischen melden aber viele Bundesstaaten wieder einen Zuwachs. Vor allem in den heißen Sommermonaten Jänner und Februar erwarten Forscher einen rapiden Anstieg der Infektionen. Ebenfalls alarmierend: Die Zahl der Erkrankungen mit Dengue-Fieber erreichte mit mindestens 800.000 Fällen einen neuen Rekord. Beide Erreger werden durch die Mücke Aedes aegypti übertragen. "Das Insekt hat sich bestens den urbanen Bedingungen angepasst. Jede kleine Pfütze ist eine ideale Brutstätte", sagt der Mikrobiologe Paolo Zanotto von der Universität São Paulo, ein führender Zika-Experte in Brasilien.

Unruhige Babys

Vitória ist ein fröhliches Kind, das all die Arztbesuche und Reha-Maßnahmen ruhig über sich ergehen lässt. Dass dies nicht selbstverständlich ist, weiß Ärztin Marisa Mussi. Rund 30 Kinder mit Mikrozephalie betreut die Spezialistin am Hospital der Universität São Paulo in Ribeirão Preto. "Die meisten dieser Babys schreien viel und kommen selten zur Ruhe", sagt sie. Die Ursache seien aber nicht Schmerzen, sondern vielmehr ein neurologisches Ungleichgewicht. Durch regelmäßige Therapie und Medikamente seien viele der Kinder ruhiger geworden. "Das ist schon eine ganze Menge. Wir müssen in kleinen Schritten denken", so Mussi.

Rafaela Souza musste ihre Arbeit als Rezeptionistin aufgeben, um sich um ihr krankes Baby zu kümmern. Es gibt zwar eine kleine staatliche Unterstützung, doch die reicht kaum zum Überleben. "Es ist wirklich eine Tragödie, die diese Familien durchleben, aber auch für unser Land", sagt Mussi. Die Schädigung des Gehirns bei Mikrozephalie ist irreversibel und führt zu vielfältigen Behinderungen, die größte Gefahr sind genetische Veränderungen. Bei den Kindern können Lähmungen und Epilepsie auftreten, sie haben Gleichgewichtsstörungen und schwere Schädigungen an den Augen und am Nervensystem. "Die Kinder brauchen vor allem Liebe und Zärtlichkeit, das ist das Wichtigste", weiß Mussi. Die Erwartung, dass eines der von ihr betreuten Kinder jemals Laufen oder Sprechen lernt, hat sie aber nicht. Dafür sind die Beeinträchtigungen zu stark.

"Heute haben wir eine komplett andere Situation als vor einem Jahr", sagt Zanotto: "Wir wissen, dass das Virus die Plazenta durchbricht, dass ein Impfschutz in absehbarer Zeit möglich ist und dass das Virus auch durch sexuellen Kontakt übertragen werden kann." Er ist zuversichtlich, dass innerhalb der nächsten drei Jahre ein Impfschutz verfügbar sein wird. Es wird weltweit an drei Impfstoffen geforscht, die erfolgreich an Affen erprobt wurden.

Rätseln über Mikrozephalie

Unklar ist, wie viele Menschen sich insgesamt in Brasilien mit Zika infiziert haben. Einige Experten gehen von weit über einer Million aus. "Es ist, als ob wir auf einem Meer ohne Kompass segeln", gibt Zanotto zu. Die Wissenschafter rätseln auch, warum gerade in Brasilien so viele Babys mit Mikrozephalie geboren wurden. "Auch in Kolumbien gab es einen Zika-Ausbruch, aber vergleichsweise wenig Fälle von Mikrozephalie", sagt Zanotto und verweist auf mögliche weitere entscheidende Faktoren. Eine These ist der Zusammenhang mit der Dengue-Epidemie. "Dengue-Antikörper können den Verlauf einer Zika-Infektion stark beeinflussen", sagt der Biochemiker. (Susann Kreutzmann aus São Paulo, 18.12.2016)