Martin Kušej: "Ich beschreibe meine Angst."

Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Es fällt nicht wirklich schwer, zur "Hexenjagd" in Massachusetts eine Analogie zu heutigen Hysteriegesellschaften zu bilden ...

Kušej: Die Analogie zu Österreich liegt so auf der Hand, dass es schon wieder peinlich ist. Man sieht es und muss es hinnehmen.

STANDARD: Arthur Millers Porträt einer puritanischen Gesellschaft wirft auch die Frage nach dem Ressentiment auf. Ressentiment ist eine politische Produktivkraft geworden. Ersetzt es uns heute das aufklärerische Denken?

Kušej: Das stimmt leider und macht mich traurig. Aber weil ich etwas dagegen tun möchte, inszeniere ich genau dieses Stück. Es beschreibt eine tief in mir sitzende Angst.

STANDARD: Wovor?

Kušej: Davor, dass ich mich plötzlich in einem System wiederfinde, eventuell auch gleich in einem Gerichtsprozess. Dass ich verhaftet werde, ohne zu wissen, warum. Wir kennen das alle aus Kafkas Prozess. Die Angst besteht darin, den Grund für die Verhaftung nicht zu wissen. Eine Ahnung taucht allenfalls auf: Könnte es mit meiner Haltung zu tun haben, meiner Religion, meiner Herkunft? Als Angehöriger der slowenischen Minderheit in Österreich spüre ich das fast genetisch in mir verankert. Ich fürchte mich vor wenig, vielleicht vor nichts. Doch jetzt empfinde ich mit einem Mal eine Urangst. Ich meine, einen Prozess zu erleben, der nur deshalb stattfindet, um mich zu vernichten, und es gibt keine Mittel und Regeln, die mir eventuell helfen oder beistehen könnten. Ich habe das Stück vor zwei Jahren wiedergelesen, und sofort fiel mir auf, wie sehr mich Die Hexenjagd aktuell beschäftigt.

STANDARD: K. sieht sich im "Prozess" einer namenlosen Gewalt preisgegeben. Bei Miller aber kann man die Täter und Hetzer doch klar benennen?

Kušej: Das ist auch das Krasse daran. Die Hexenprozesse von 1692 sind ganz konkret. Konkret aber waren auch die Verfolgungen unter Senator McCarthy, diejenigen in der DDR, im Stalinismus, selbstverständlich diejenigen im Faschismus. Atemberaubend ist, wie rasch das wiederkommen könnte. Wie Arthur Miller sagt: Sein Stück sei immer dann von besonderer Relevanz, wenn es die Erinnerung an eine Tyrannei wecke, die gerade vorbei ist. Oder es zeige eine Tyrannei auf, die gerade im Entstehen begriffen ist. Es demonstriert eindrucksvoll, wie rasch ein solcher Zwang – ganz ohne Weimarer Republik, ohne Ständestaat, ohne tatsächlich existenzielle Not – entsteht.

STANDARD: Der Grund?

Kušej: Es gibt gewiss genug soziologische Skalierungen und Analysen, die die Erklärungen abbilden. Wir können die Situation mit dem Theater nicht verändern. Aber wir können darstellen, was mit Menschen konkret passieren wird, die plötzlich einem tyrannischen, nur auf Macht und Profit orientierten System ausgeliefert sind, in dem humanistische Werte nicht mehr zählen. Ich hoffe natürlich, dass ich nicht recht behalte.

STANDARD: Woran liegt aber nun die Abkoppelung von der Vernunft?

Kušej: Ich glaube nicht an eine Krise der Vernunft, denn die existiert ja weiter. Sie wird aber vielleicht verdreht und verschleiert, manipuliert und geleugnet. Es sind die Umstände, in denen Vernunft nicht mehr greift.

STANDARD: Vernunft ist kein Stoff, der sich abnützt?

Kušej: Die Frage sollte lauten: Wie viele vernünftige Menschen gibt es? Und warum setzt sich Verblödung durch? Damit berühren wir die Dimension der Bildung. Was läuft da schief? Dazu kommt die Frage nach dem Profit. Was hat jemand davon, wenn er mit der Vernunft der Menschen manipuliert? Eine Marketing-Expertin hat mir unlängst erzählt, ihre Kunden verlangen von ihr seit neuestem: "Trumpismus". Es erweist sich, dass man mit größtem Schwachsinn, den furchtbarsten Lügen extrem erfolgreich sein kann.

STANDARD: Das Ressentiment ist warenförmig geworden?

Kušej: Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer. Ich bin ein glühender House of Cards-Konsument. Spannend und irritierend zu verfolgen, mit welcher intriganten Kraft, aber auch mit welcher Intelligenz dort mit den Regeln der Vernunft gespielt wird. Vernünftig nämlich. Aber im System "Trump" wird alles nochmal komplett über Bord geworfen, und es regiert tatsächlich die pure Dummheit. Das macht mich fassungslos.

STANDARD: Die Puritaner in Millers "Hexenjagd" führen unentwegt Gott im Mund. Wie lässt sich das "Comeback" des Lieben Gottes deuten, der auch plötzlich im Großgedruckten politischer Plakate wieder auftaucht?

Kušej: Wenn ich die Antwort wüsste, wäre ich wahrscheinlich Bischof. Ich habe eine sehr große Distanz zur Kirche, zu Gott, das war für mich eine kontinuierliche Wegbewegung. Aber ich hege tiefe Achtung vor Spiritualität. Der politische Gebrauch des Gottesbegriffs hat nur damit überhaupt nichts zu tun. Der Glaube und das Gottesbild haben sich von den Menschen weitestgehend abgelöst. Erst dadurch konnte "Gott" wieder zu einer Spielmarke werden. Mir ist es zum Beispiel rätselhaft, wie man in den USA gegen die Abtreibung sein und zugleich für ein liberales Waffengesetz eintreten kann. Da muss man sofort wieder die Profitfrage stellen, oder aber das entsprechende "Framing" erwähnen. Und es gehört, mit Blick auf ihre Plakate, zur Taktik der FPÖ, jeden Bereich, der Wähler eventuell betreffen könnte, in ihren Rahmen, in ihren "frame", einzupassen. (Ronald Pohl, 17.12.2016)