Kanzler Kern (links) bremst Außenminister Kurz im Türkei-Streit ein.

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Die Europäische Union stellt ihre umfangreichen Beziehungen zur Türkei – zu denen die Zollunion, der Migrationspakt und die Sicherheitspartnerschaft in der Nato ebenso gehören wie der seit 1999 laufende Beitrittsprozess – in keiner Weise infrage. Das hat Ratspräsident Donald Tusk Donnerstagnacht zum Abschluss des EU-Gipfels in Brüssel herausgestellt.

Die Union verurteilt die Verletzungen der Grundrechte in der Türkei, die Willkür bei den Massenverhaftungen nach dem versuchten Putsch im Juli oder das Vorgehen von Präsident Erdoğans Regierung gegen Medien und Opposition. Die Türkei sei aber auch "objektiv in einer schwierigen Lage", sagte Tusk. Die Union habe trotz allem "die klare Absicht, den Dialog fortzusetzen".

Im März soll es einen EU-Türkei-Gipfel geben. "Kein EU-Land" habe die bestehende Flüchtlingsvereinbarung infrage gestellt, ergänzte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Ein möglicher Abbruch der Beitrittsverhandlungen, oder auch nur ein "Einfrieren", wie Außenminister Sebastian Kurz am Montag im EU-Ministerrat ultimativ gefordert hatte, war bei den 28 Staats- und Regierungschefs kein Thema. Sie betonten in ihrem einstimmig beschlossenen Schlussdokument: Der Rat "bekräftigt das Festhalten an der EU-Türkei-Erklärung und betont, wie wichtig es ist, dass alle Elemente vollständig und in nicht diskriminierender Weise umgesetzt werden".

"Neue Energie"

Übersetzt heißt das: Auch alle anderen damit verbundenen Zielsetzungen, die bei früheren EU-Gipfeln gemeinsam fixiert wurden, sind betroffen. Ein Element dabei, niedergelegt am 29. November 2015: "Der Beitrittsprozess muss mit neuer Energie weitergeführt werden." Auch wenn das diesmal explizit so nicht extra festgehalten wurde, gilt es; und es stellte sich daher die Frage, warum Bundeskanzler Christian Kern das akzeptiert hat. Kurz hatte gegen den Willen aller 27 EU-Partner am Dienstag jede Erklärung dazu blockiert – sogar eine, in der klar festgehalten wurde, dass bis auf Weiteres keine neuen Kapitel der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei eröffnet werden.

Die türkische Regierung erklärte Wien daraufhin den diplomatischen "Krieg". Kern sagte in Brüssel, die Reaktion aus Ankara sei "völlig überzogen", er sei auch der Auffassung, dass das Land nicht EU-Mitglied werden könne. "Das ist die Position Österreichs."

"Das ist der richtige Weg"

Aufhorchen ließ der Kanzler dann aber mit Bemerkungen, dass er eine Fortsetzung der von Kurz forcierten Blockadetaktik jetzt für falsch hielte: "Was heute beschlossen wurde, zu dem stehe ich voll und ganz, das ist der richtige Weg." Es würde keinen Sinn machen, "weiter in die Blockade zu gehen, wenn die 27 diese Sorgen nicht teilen". Vielmehr müssten er und die Regierung sich beim Auftreten in der EU die Frage stellen: "Was tut uns gut?" Man sei bei der Suche nach Partnern "gescheitert", er habe diesbezüglich auch seine Erfahrungen beim Handelsabkommen Ceta gemacht.

"Es ist kein guter Rat, mit dem Finger auf die anderen zu zeigen", sagte der Kanzler. Österreich sollte sich bei seinen Forderungen an die EU-Partner an das halten, was realistisch sei, "was wir uns erwarten dürfen". In letzter Zeit sei es etwas zu sehr in Richtung Populismus gegangen, räsoniert Kern, aber "wir brauchen andere Formen der Diskussion über Europa". Und: Ich sehe das mit einem Anflug von Selbstkritik." (Thomas Mayer aus Brüssel, 16.12.2016)