Ein Blick in die Augen sagt mehr als nur die Augenfarbe: Nicht selten zeigen sich Erkrankungen an den diversen Veränderungen des Sehorgans.

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Beim Blick in den Spiegel entdeckte Tracie Howard eines morgens vor drei Jahren eine kleine Erhebung unter ihrem linken Augenlid. Ein hartnäckiges Hagelkorn, dachte die damals 55-Jährige Marketingmanagerin in Atlanta. Sie trug Salben auf, kühlte mit Kompressen. Nichts half. Schließlich ging sie zum Augenarzt, der den Knoten entfernte und das Gewebe untersuchen ließ. Der Befund: Non-Hodgkin-Lymphom, Lymphdrüsenkrebs. "Das hatte ich nicht erwartet, niemals", sagt Howard. Sie sei zwar besorgt gewesen, "aber mehr darüber, wie mein Auge aussah".

Der Arzt, der sie behandelte, war weniger überrascht. "Ich erlebe das immer wieder: Scheinbar harmlose Symptome fördern systemische Krankheiten zu Tage", sagt Kenneth Neufeld von der Thomas Eye Group, einer ambulanten Augenklinik in Atlanta. Auch solche, die – zu spät entdeckt – tödlich verlaufen können.

Die Augen mögen das sprichwörtliche Fenster in die Seele sein; für Mediziner öffnen sie auch einen Blick in das Gehirn, das Herz, das Kreislauf-, Nerven- und Immunsystem des Menschen. Und dienen damit als ein hoch sensibles und äußerst effizientes Frühwarnsystem des Körpers.

Spiegel der Seele

Lymphome wie bei Tracie Howard werden meistens bei Routineuntersuchungen entdeckt – auf der Innenseite der Augenlider oder auf der Lederhaut, dem weißen Teil des Augapfels, und zwar "als kleine, erhabene lachsfarbene Flecke", sagt Neufeld, der am renommierten Cornell Medical Center in New York und an der Duke University in North Carolina studierte und seit 12 Jahren als Augenarzt praktiziert. Auch andere Krebsarten wie Melanome zeigen sich regelmäßig in den Augen oder an den Lidern.

Die Krankheit, die Ärzte am häufigsten in den Augen ihrer Patienten diagnostizieren, ist Diabetes. Nach Erhebungen der Weltgesundheitsorganisation WHO stieg die Zahl der Erkrankten in den vergangenen 35 Jahren von 108 auf 422 Millionen.

Eine geschwollenen Linse, poröse, erweiterte oder verengte Blutgefäße sowie Blutungen in der Retina – all dies können Anzeichen von Diabetes sein. "Häufig erfahren Patienten zuerst beim Augenarzt, dass sie Diabetiker sind", sagt Neufeld. Diabetische Retinopathie, Erkrankungen der Netzhaut infolge von Diabetes, führt zu mehr Erblindungen als alle anderen Krankheiten in westlichen Ländern.

Blick in den Kreislauf

Auch Herz-Kreislauferkrankungen senden oft frühe Warnsignale über die Augen. Das Ophthalmoskop, der Augenspiegel, erlaube dem Arzt "einen einzigartig direkten Blick ins Innere des menschlichen Blutkreislaufs", sagt Neufeld. Er sieht die Blutgefäße in der Retina, die im Rhythmus des Herzschlags pulsieren. Bei Patienten mit hohem Blutdruck, ähnlich wie bei Diabetikern, sind die Blutgefäße verändert, manchmal gewunden und verschlungen wie winzige Krampfadern. Bisweilen ist auch die Wurzel des Sehnervs geschwollen.

Eine Augenuntersuchung kann ferner Hinweise auf einen erhöhten Cholesterinspiegel liefern – und zwar in Form gelblicher, kalkartiger Ablagerungen in den Innenseiten des Ober- und Unterlids. Weitere Tests beim Internisten bestätigen in den meisten Fällen den Verdacht.

Auch ein Mini-Schlaganfall – im Fachjargon: Transitorische Ischämische Attacke (TIA) – kann sich im Auge ankündigen. Plötzlich einsetzende, vorübergehende Sehstörungen auf einem Auge weisen auf ein Blutgerinnsel oder Herzrhythmusstörungen hin. Auch wenn die Symptome nur wenige Minuten anhielten, müsse der Patient sich unbedingt genauer untersuchen lassen, betont Neufeld; sonst drohe ein schwerer Schlaganfall mit bleibenden Schäden.

Fokus im Immunsystem

Zahlreiche Autoimmunerkrankungen gehen ebenfalls mit Augenbeschwerden einher. So sind tränende, brennende, entzündete Augen oft Vorboten oder Begleiterscheinungen rheumatischer Erkrankungen. Beim Morbus Basedow kommt es zwar in erster Linie zu einer Schilddrüsenüberfunktion, doch bei einigen Patienten treten auch die Augäpfel aus ihren Höhlen hervor. "Das ist eines der offensichtlichsten Symptome für eine systemische Krankheit, die sich an den Augen manifestiert", sagt Neufeld.

Bei Multipler Sklerose führt der Weg zur Diagnose ebenfalls häufig über die Augen. Der erste Krankheitsschub beginnt meist mit einer Entzündung des Sehnervs, der Teil des Gehirns ist. "Viele Patienten gehen wegen Sehstörungen und Augenschmerzen zum Arzt – und werden dann mit MS diagnostiziert", sagt Julia Haller, Chefärztin am Wills Eye Hospital in Philadelphia, der ältesten Augenklinik der USA.

Weil die Augen über Retina und Sehnerv eine direkte Verbindung zum Gehirn haben, erforschen Wissenschaftler seit längerem, wie sich frühe Symptome für neurodegenerative Erkrankungen wie Parkinson und Alzheimer am Auge manifestieren. So können verminderter Tränenfluss, verringerter Lidschlag und entzündete Augenlider frühe, wenngleich unspezifische Symptome von Parkinson sein.

Fenster ins Gehirn

Bei Alzheimer lagern sich charakteristische Beta-Amyloid-Eiweiße auf der Netzhaut und der Augenlinse ab, lange bevor sie die typischen Plaques im Gehirn der Patienten bilden. Vor allem in den USA, aber auch in Australien und Europa arbeiten Wissenschaftler intensiv an der Entwicklung von schnellen, vergleichsweise billigen und nicht-invasiven bildgebenden Verfahren. So könnten Ärzte in Zukunft ihre Patienten beim Augen-Check auch gleich auf Anzeichen von Alzheimer untersuchen – per Retina-Scan. Julia Haller ist optimistisch, dass "die neuen Technologien in den nächsten fünf, maximal zehn Jahren bereit sind für die Anwendung in der Praxis."

Weltweit sind 47 Millionen Menschen an Alzheimer erkrankt. Bis 2030 sollen die Zahlen auf 76 Millionen steigen. Eine Therapie für Alzheimer gibt es bislang nicht, aber Früherkennung kann den Verlauf verzögern.

Ein weiterer Grund, regelmäßig zum Augenarzt zu gehen, findet Andreas Wedrich, Professor an der Universität Graz und Präsident der Österreichischen Ophthalmologischen Gesellschaft (ÖOG). Wie seine Kollegen in den USA, so beklagt auch Wedrich, dass "sich insbesondere jüngere Leute" – damit meint er alle unterhalb des Rentenalters – "zu selten einer Augenuntersuchung unterziehen." In Österreich, besagen Schätzungen, nur etwa alle sieben Jahre.

Fehlsichtigkeit als Problem

Hinzu kommt: Viele Patienten suchten bei Fehlsichtigkeit einen Optiker auf statt einen Augenarzt. "Da beginnt das Problem", sagt Wedrich. "Weil der Optiker nicht die gründlichen Untersuchungen durchführt, die beim Augenarzt möglich sind".

Die ÖOG, ebenso wie die US-Gesundheitsbehörde CDC empfiehlt jährliche Augenuntersuchungen ab dem 40. Lebensjahr – oder früher, wenn Vorerkrankungen, familiäre Risikofaktoren oder Fehlsichtigkeit vorliegen. Sie seien der wirksamste Schutz gegen Erblindung, sagt Wedrich. Und hätten außerdem "den Nebeneffekt, dass sie andere, teilweise ernste Erkrankung zu Tage fördern".

So wie im Fall von Tracie Howard, der Patientin von Wedrichs Kollegen Kenneth Neufeld. Sie ist nach einer Chemotherapie heute krebsfrei. Auch der Schnitt an ihrem Augenlid hat keine sichtbaren Spuren hinterlassen. Howard ist froh, dass sie damals eitel und besorgt genug war, um sich untersuchen zu lassen. Ohne den Termin beim Augenarzt , sagt sie, "wäre ich jetzt wahrscheinlich tot." (Katja Ridderbusch, 20.12.2016)

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